Bundesverfassungsgericht entscheidet für ambulante Zwangsbehandlung – Die Verbände der Psychiatrie-Erfahrenen sind entsetzt

Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener ist bestürzt über das heutige Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das ambulante Zwangsbehandlungen erlaubt. Bereits im Vorfeld hatten viele Experten dem Gericht dargelegt, dass damit das
Selbstbestimmungsrecht von Patienten massiv eingeschränkt werde.

Bisher waren Zwangsbehandlungen, also z.B. Fixierungen zur Verabreichung von Medikamenten, nur in Kliniken erlaubt. Denn nur dort konnte sorgfältig durch medizinisches Personal geprüft werden, ob die Zwangsbehandlung tatsächlich notwendig sei. Mit dem heutigen Urteil ist nun auch außerhalb von Kliniken eine zwangsweise Verabreichung von Medikamenten oder eine Fixierung, z.B. zuhause, gestattet.

„Die Schutzpflicht des Staates gegenüber den Bürgern wird mit diesem Urteil auf perfide Weise ins Gegenteil verkehrt“, sagt René Talbot vom Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener. „Wir nehmen das nicht hin und werden ein „Bündnis gegen ambulante Zwangsbehandlung“ gründen!“

Auch Matthias Seibt, einer der psychiatrie-erfahrenen Experten, zeigt sich entsetzt: „Mit diesem Urteil werden Misshandlungen von Patienten erleichtert. Verstöße gegen die UN-Behindertenrechtskonvention sind vorprogrammiert. Wir empfehlen dringend, Patientenverfügungen zu verfassen, um Zwangsbehandlungen vorzubeugen!“

Die Verbände kündigten an, dass dann, wenn Fälle von ambulanter Zwangsbehandlung bekannt werden sollten, diese vor das UN-Komitee für die Behindertenrechtskonvention in Genf gebracht werden. Sie weisen darauf hin, dass sowohl die UN als auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die gewaltfreie Psychiatrie fordern.

Stellungnahme zum Ende der Ampel-Regierung und dem befürchteten Endedes von uns erhofften 2. Gesetzes zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts

Als LAG Werkstatträte NRW vertreten wir fast 80.000 Werkstattbeschäftigte in NRW.
Auch wir sind vom vorzeitigem Ampel-Aus betroffen: Wir sind enttäuscht! Zutiefst enttäuscht!

Angesichts des Koalitionsbruchs wird über viel geredet, was jetzt noch auf den Weg gebracht werden muss. Über das 2. Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes redet aber keiner. Es ist anscheinend nicht so wichtig. Es betrifft ja nur eine kleine Gruppe von Wählern in den Werkstätten, die sich bessere Perspektiven für den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt erhofften, ohne Abstriche bei der Rente hinnehmen zu müssen. Es betrifft ja nur eine kleine Gruppe von Wählern in den Werkstätten, die aus unterschiedlichen Gründen weiter in diesen bleiben wollen, sich aber trotzdem eine Verbesserung ihres Entgelts erhofften.

Einst gab es eine Bundesregierung (GroKo), die sich mit den Anliegen der Werkstattbeschäftigten näher beschäftigen wollte und hierfür eine Studie in Auftrag gab. Aber als der Abschlussbericht der Studie herauskam, schien dies gar nicht mehr so
zu interessieren.

Von Seiten der Politik kamen eigene Vorstellungen, die die Situation beim Entgelt nicht wirklich verbesserten. Die Studie wurde von keiner Partei wirklich ernst genommen. Sie unterboten sich in ihren Vorschlägen zur Entgelt-Verbesserung. Der große Wurf, so hieß es bald, käme in dieser Legislaturperiode nicht mehr.

Trotzdem wurden bald durchaus annehmbare Vorschläge gemacht. Es wurden erste Vorschläge gemacht, die den Verteilungs-Spielraum beim Entgelterweitert hätten. Es wurden erste Vorschläge gemacht, die den Werkstattbeschäftigten auch das dann mehr verdiente Entgelt gelassen hätten: Dass sich die Arbeit wieder gelohnt hätte. Es waren aber Vorschläge, die weit entfernt von den ursprünglichen Forderungen der Werkstatträte und auch weit entfernt von den Empfehlungen der Studie waren. Aber es waren Vorschläge, die den Werkstattbeschäftigten wieder Perspektiven gab.

Und jetzt?
Alles dies spielt überhaupt keine Rolle mehr. Alles dies ist auf einmal wieder weit beiseite geschoben.

Und die Werkstatträte?
Sie stehen wieder mit leeren Händen da.

Sie müssen ihren Kollegen sagen, dass alles wieder auf Eis gelegt ist.
Sie müssen ihren Kollegen vielleicht auch sagen, dass weiter kein Urlaubs- und Weihnachtsgeld ausgezahlt werden kann. Sie müssen ihren Kollegen vielleicht auch irgendwann sagen, dass der Grundbetrag nicht mehr in voller Höhe ausbezahlt werden kann, weil die Rücklagen aufgebraucht sind.

Sie müssen sich vor ihre Kollegen stellen und ihnen sagen, dass der Kampf für ein besseres Entgelt erst einmal umsonst war.

Und wann und wie geht es weiter, wenn gewählt worden ist?
Wie lange wird es dauern, bis eine neue Koalition gebildet ist?

Wer auch immer die zukünftige Regierung bildet:

Wir appellieren an Sie, dass Sie unsere Anliegen ernst nehmen.

Wir appellieren an Sie, dass Sie sich so schnell wie möglich mit unseren Anliegen auseinandersetzen.

Wir appellieren an Sie, dass unsere Anliegen einen zentralen Platz in Ihrem Koalitions-Vertrag haben werden.

Wir appellieren an Sie, dass hier so schnell wie möglich was auf den Weg gebracht wird.

Wir appellieren an Sie, dass nicht wieder alles nach ganz hinten ans Ende der Legislaturperiode geschoben wird.

Aber dennoch:
Für jetzt sind wir enttäuscht! Zutiefst enttäuscht!
Die konkreten Forderungen von Werkstatträte Deutschland unterstützen wir von ganzem Herzen!

Stellungnahme der Selbsthilfe zur Situation von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf in Kindertageseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen

Die Selbsthilfe machte wiederholt auf die Problematik der unzureichenden teilhabeorientierten Betreuung und Bildung von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf[1] insbesondere in inklusiven Kindertageseinrichtungen (KiTas) aufmerksam[2]. Im Rahmen dieser Stellungnahme konkretisieren wir die von uns wahrgenommen Hindernisse und Benachteiligungen für Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf in NRW und sprechen uns für Handlungsbedarfe aus. Unsere Ausführungen und Forderungen tätigen wir advokatisch für Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf und ihre Familien. Wir beziehen uns auf Berichte und Expertisen von betroffenen Angehörigen, inklusiv tätigen Regelkindertageseinrichtungen, Familienberatungs- und Inklusionszentren, heilpädagogischen Kindertageseinrichtungen sowie einschlägige Quellen.


GRUNDSÄTZLICHES

„Familien sind Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Unseren Kindern gehört die Zukunft. Sie sind im Fokus unserer Politik und unseres Handelns.“ [3]

Inklusive Elementarbildung in Kindertageseinrichtungen legt einen der ersten Grundsteine für ein gemeinsames Lernen und Erleben in unserer Gesellschaft und kann Kindern mit Behinderung eine gleichberechtigte Teilhabe ab frühen Lebensjahren gewährleisten.   

Wir begrüßen daher die Zielsetzung der KiBiZ-Reform eine inklusive Kita – Landschaft in NRW zu fördern. Wir stellen in der aktuellen Situation jedoch fest, dass die Betreuung von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf auch für erfahrene und jahrelang inklusiv arbeitende Kitas herausfordernd ist. Wir nehmen eine strukturelle Benachteiligung der Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf wahr. Wir beobachten eine Entwicklung ungleicher Lebensverhältnisse zwischen Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf und ihren Familien und Kindern ohne Behinderung. Die Selbsthilfe sieht deshalb das Ziel der Landesregierung, die größtmögliche Inklusion gerade auch von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf in Gefahr.

Diese Einschätzung ergibt sich ausfolgenden Aspekten:

  1. Wir sehen eine Versorgung mit Kita-Plätzen für Kinder mit hohen Unterstützungsbedarf in NRW nicht gewährleistet. Statt einer besonderen Berücksichtigung der Bedürfnisse von Kindern mit oder mit drohenden Behinderungen bei der gewünschten wohnortnahen Betreuung (§ 3 Abs. 2 KiBiz), zeichnen sich immer mehr Absagen seitens Kita-Regeleinrichtungen von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf und eine erhöhte Anfrage bei heilpädagogischen Einrichtungen ab.[4]  
  • In NRW gibt es aktuell keine rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen der Kindertagesbetreuung, die es inklusiv arbeitenden Kitas ermöglichen, ein nachhaltiges und bedarfsorientiertes Kita-Setting für Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf aufzubauen und zu erhalten.[5]
  • Der Aufbau und die dauerhafte, qualitative Umsetzung eines inklusiven Settings und der teilhabeorientierten Betreuung für Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf hängt aktuell allein von Haltung, Motivation und Qualifikation der jeweiligen Kita-Träger und dort tätigen (Fach-)Personen ab. Es fehlen Anreize für Kita-Träger Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf aufzunehmen[6].
  • Der Fach- und Arbeitskräftemangel wirkt sich besonders negativ auf die Betreuung und die Förderung der sozialen Teilhabe von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf in inklusiven und heilpädagogischen Kitas sowie auf die Lebenssituation der Familien aus.[7]
  • Trotz einheitlicher Gesetzesgrundlage erfolgt die Durchführung des Teilhabe-/Gesamtplanverfahrens uneinheitlich und weist qualitative Unterschiede auf.
    Statt einer personenorientierten, interdisziplinären Vorgehensweise beobachten wir vermehrt eine Bedarfsermittlung ohne persönlichen Kontakt zu Kind und Eltern sowie eine intransparente Bewilligungspraxis.[8]
  • Die Bewilligung der individuellen Leistungen im Elementarbereich weisen eine Tendenz zu Förderung, Therapie und eine Fokussierung auf den Befähigungsansatz auf.[9] Dieser Ansatz kann bei Kindern mit hohen Unterstützungsbedarf exkludierend und nachteilig in Bezug auf die Förderung von sozialer Teilhabe und Bildung in Kitas wirken.

Die benannten strukturell bedingten Aspekte treffen auf Kinder und Eltern, die in ihrem Alltag bereits von Mehrbelastungen betroffen sind, zu[10]. Sie führen in der aktuellen Situation zu weiteren Benachteiligungen von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf und ihren Familien. Um Exklusionstendenzen bei den betroffenen Familien entgegenzuwirken und das Recht auf Teilhabe und Bildung bei Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf zu gewährleisten, fordern wir ein aktives Vorgehen aller beteiligten Akteure.

Für das Vorgehen formulieren wir folgende übergeordnete Handlungserfordernisse, die wir unter „Im Einzelnen“ herleiten und daraufhin konkrete kurz- und mittelfristig ansetzende Maßnahmen benennen.

  • Die Einleitung von gemeinsamen tragbaren Lösungen muss zum aktuellen Zeitpunkt erfolgen und sich unmittelbar entlastend auf die Situation von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf auswirken.
  • Es bedarf Regelungen für die spezifische Situation von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf für den Übergangszeitraum bis zur Implementierung der inklusiven Lösung sowie der Verhandlung der Basisleistung II. Sie müssen formuliert und klar an Eltern und Kita-Träger kommuniziert werden.
  • Der Bildungs- und Erziehungsauftrag nach § 15 KiBiZ und die soziale Teilhabe muss auch bei Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf im Vordergrund stehen. Individuelle heilpädagogische Leistungen mit dem Ziel der sozialen Teilhabe der Kinder in der Kita dürfen nicht nachrangig von medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Leistungen behandelt werden.
  • In der aktuellen Durchführung des Teilhabe-/Gesamtplanverfahrens muss die Situation von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf besonders beachtet werden.
  • Inklusive und heilpädagogische Kitas benötigen rechtliche und finanzielle Handlungsspielräume, um die Betreuung von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf bedarfsgerecht gewährleisten zu können.
  • Eltern, Kinder und Kita-Träger benötigen transparente und verständliche Informationen und erreichbare Ansprechpersonen sowie eine Entlastung vom Bürokratieaufwand.

IM EINZELNEN

1. Notwendigkeit der spezifischen Betrachtung von Bedarfen, Lernvoraussetzungen und Lebenssituationen von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf und ihrer Familien zum Ausgleich von Benachteiligung

Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf sind in ihren Bedarfen, Lernvoraussetzungen und Entwicklungsmöglichkeit heterogen. Im Kontext der Erziehung und Betreuung im Elementarbereich gibt es jedoch gemeinsame Erfahrungen und beobachtbare Tendenzen.

  • Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf können wesentliche Fortschritte in ihrer Entwicklung erzielen. Die Behinderung der betroffenen Kinder ist in den allermeisten Fällen jedoch nicht „heilbar“ und manchmal sogar degenerativ/progressiv. Trotz Therapie, Förderung und Befähigung sind die Barrieren im Kita-Alltag so zahlreich, dass der hohe Unterstützungsbedarf und auch der Bedarf an (u.a.) heilpädagogischen Leistungen während der gesamten Kita-Zeit bestehen bleibt. Die Annahme, dass bei diesem Personenkreis im Laufe der Unterstützung Leistungen der Eingliederungshilfe entfallen, ist irreführend.
  • Die Mitteilungsarten und die Erscheinungsformen von Teilhabe und Entwicklung sind bei Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf vielschichtig. Das Erkennen und Deuten von Bedarfen, Bildungspotenzialen und Entwicklungsschritten bedarf einen dauerhaften persönlichen Bezug zu den Kindernund einen fachlichen Blick. Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf benötigen tragfähige, dauerhafte Beziehungen zu (Fach-) Personal und anderen Kindern.
  • Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf stoßen in Bezug auf die Möglichkeit einer gemeinsamen Betreuung von Kindern mit und ohne Behinderung im inklusiven Setting häufig auf Vorbehalte von Kita-Trägern, Fachkräften und Eltern.[11]
  • Viele Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf haben bereits einen umfassenden Diagnostikprozess hinter sich. Sie werden bereits von Sozialpädiatrischen Zentren (SPZs) begleitet und erhalten Leistungen der Frühförderung. Teilweise gibt es bereits Gutachten und Empfehlungen seitens der mit den Kindern arbeitenden Fachstellen für den Eintritt in die Kita. Andere Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf durchlaufen in der Kita zum ersten Mal einen Diagnostikprozess. Sie zeigen z.B. sozial-emotionaler Auffälligkeiten und/oder herausforderndem Verhalten. Die Diagnostikprozesse sind in vielen Fällen langwierig.[12] In dieser Zeit haben die Kinder keinen Anspruch auf Leistungen. In beiden Fällen ist der hohe Unterstützungsbedarf nach einer interdisziplinären Beratung mit Beteiligung der Eltern auch vor Eintritt in die Kita ersichtlich. Im Zeitraum bis zum Bewilligungsbescheid können viele Kitas die Kinder nicht aufnehmen bzw. bedarfsgerecht betreuen. Wertvolle Entwicklungszeit verstreicht. Die Belastungen in den Familien steigen.[13]
  • Familien mit Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf treffen auf zusätzliche sozioökonomische Herausforderungen im Lebensalltag. Neben erhöhtem Bürokratieaufwand, Organisation und Koordination des Alltags und täglicher Pflegearbeit haben sie weniger Möglichkeiten durch Hilfe von Privatpersonen oder Babysittern für Entlastungsmomente zu sorgen. Der Wegfall von Betreuungszeit in der Kita oder des gesamten Kita-Platzes verstärkt oft die Belastung der Familien. Eltern können teilweise keiner Berufstätigkeit nachgehen und sind finanziell belastet.[14]


Um eine bedarfsorientierte und wirksame Veränderung der Situation der Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf zu erzielen, fordern wir Strategien, Konzepte und Maßnahmen, welche die benannten Spezifika[15] der Situation von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf einbeziehen.

Mittelfristig empfehlen wir die Erwähnung von Handlungsstrategien für den benannten Personenkreis in aktuelle landesweite Steuerungsinstrumente zur Implementierung einer inklusiven Betreuungslandschaft. Dazu gehören z.B. die „Empfehlungen der Landesjugendämter Rheinland und Westfalen-Lippe zur kommunalen Jugendhilfeplanung“ oder der „Qualitätsrahmen zur Qualifizierung von Fachkräften in Kindertageseinrichtungen „Kompetenzprofil Inklusion“.


2. Strukturelle Absicherung schaffen und Barrieren bei der Umsetzung pädagogisch-konzeptioneller Ansätze im Elementarbereich verringern

Damit Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf mit anderen Kindern in Einrichtungen der Kindertagesbetreuung aufwachsen können, braucht es pädagogische Konzepte, die diese Zielgruppe in den Blick nehmen, Personal mit einer positiven Haltung zur Inklusion und Fachkenntnissen, z.B. zu den komplexen Bedarfen der Kinder[16] sowie tragfähige Rahmenbedingungen. Einen hohen Stellenwert nimmt ebenfalls die Schnittstellenarbeit mit der Frühförderung und Komplexleistung nach § 14 KiBiz sowie die Beratung durch externe Beratungsstellen wie Familienzentren nach § 42 KiBiz ein.

Fachkompetenz zu gewährleisten, ist Aufgabe der Träger der Einrichtungen. Für Kitas, die Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf betreuen, bedeutet die Schaffung eines inklusiven Settings besondere Anforderungen in der pädagogischen Arbeit, in der Bereitstellung und Qualifikation des Personals sowie der Gestaltung einer barrierefreien, bedarfsgerechten Umgebung. Die Umsetzung von inklusiven Konzepten erfolgt in der Praxis qualitativ und quantitativ heterogen.[17] Die Kita – Landschaft besteht aus heilpädagogischen Kitas, inklusiv arbeitenden Kitas mit vielfältiger Erfahrung in der Betreuung von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf bis zu Regel-Kitas ohne gelebtes inklusives Fachkonzept. Inklusive und heilpädagogische Kitas sowie Beratungsstellen für Inklusion berichten in der aktuellen Situation von erheblichen Schwierigkeiten in der Umsetzung ihrer Fachkonzepte und der allgemeinen Aufrechterhaltung der Versorgung von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf. Zur Begründung der Situation führen sie folgende Punkte auf:

  • KiBiZ-Mittel und Basisleistung I decken die finanzielle Belastung der Betreuung von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf nicht ab. Durch die noch nicht verhandelte Basisleistung II fehlt es an Orientierung und Absicherung der Kita-Träger. Es fehlen dadurch Anreize für Kita-Träger sich der Betreuung von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf anzunehmen. Änderungen im Bewilligungsverhalten der individuellen heilpädagogischen Leistungen (ihpL), wie es aktuell im Bereich des LVRs passiert, führen zur Zuspitzung der Situation. Angesichts des Ausmaßes der aktuellen Schwierigkeiten sehen wir die Gefahr, dass zukünftig immer weniger Kitas bereit sein werden, Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf aufzunehmen.
  • Kitas, die bereits ein inklusives Konzept etabliert haben, sowie heilpädagogische Kitas erleben zurzeit eine starke Nachfrage von Familien mit Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf, was bei deren Aufnahme zu einer Konzentration an Kindern mit komplexen Bedarfen führt. In Wechselwirkung mit dem Fach- und Arbeitskräftemangel sind diese Kitas und das dort tätige Personal besonders gefordert und belastet.
  • Die Basisleistung I entspricht nicht den Bedarfen der Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf und bietet nicht die notwendige Flexibilität bei der Betreuung von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf. So bedarf es in manchen Fällen einer höheren Absenkung der Gruppenstärke als in der Basisleistung I angedacht. Hinzu kommt, dass nicht alle Jugendämter bedarfsbedingte Besonderheiten wie Gruppenstärkenabsenkung, Raumkonzepte, Abweichungen von Öffnungszeiten etc. akzeptieren.
  • Wir erkennen eine Tendenz, dass dem Bedarf an pädagogischen Leistungen wie der ihpL teilweise durch die Deckung von Leistungen der Frühförderung nachgegangen wird. [18] Aus pädagogischer Sicht macht diese Schlussfolgerung nur bedingt Sinn. Frühförderung verfolgt eine klar therapeutische Zielsetzung und findet in manchen Fällen nicht in den Räumlichkeiten der Kita statt. Sie weisen zudem – jedenfalls bei der solitären Frühförderung – nur einen geringen zeitlichen Umfang (ca. 45 Minuten pro Woche) auf und sichern nur bedingt die soziale Teilnahme am Kita-Alltag.
  • Fachkräftemangel und hohe Krankheitsstände beim Personal wirken sich besonders nachteilig auf Familien mit Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf aus, da die Versorgung der Kinder in Zeiten der Notbetreuung schwieriger gewährleistet werden kann. Trotz der gesetzlichen Unzulässigkeit berichten Eltern, ihre Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf daher häufiger zu Hause lassen zu müssen.


Zur Stabilisierung und für den Ausbau einer Betreuungslandschaft, in der Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf nicht exkludiert werden, weist die Selbsthilfe auf die Notwendigkeit der Einleitung kurzfristiger Maßnahmen hin.

  • Wir fordern erreichbare Ansprechpartner*innen und Unterstützung mit Expertise für Eltern und Kita-Träger, die auf der Suche nach einem geeignetem Betreuungsplatz sind bzw. Probleme in der laufenden Betreuung und/oder Bewilligung von Leistungen haben.
  • Anpassung der Gruppenstärke, um mehr als die in Basisleistung I mögliche Absenkung, Etablierung von Poolleistungen, mehr Flexibilität bei Qualifikation und Einstellung von Personal, kindgerechte Implementierung der therapeutischen Leistungen in den Kita-Alltag, Umgestaltung von Raumkonzepten für sog. „Weglaufkinder“, Regelung der Beförderungskosten in inklusiven Kitas…: Unseres Erachtens sind Möglichkeiten der Schaffung eines bedarfsgerechten Betreuungssetting auch bei aktueller Lage möglich. Die Erhaltung von einem stabilen inklusiven Betreuungssetting bedarf individueller Lösungen und manchmal innovative Handlungen. Wir empfehlen mehr Flexibilität für Kita-Träger in der Umsetzung ihrer Konzepte und der Verwendung von finanziellen Mitteln, wenn sie nach Bedarf, der bei ihnen zu betreuenden Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf handeln.
  • Wir fordern eine besondere Beachtung der Kita-Träger, die mit Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf arbeiten, bei der kommunalen Jugendhilfeplanung. Zumindest bis zur Etablierung der Basisleistung II.

Zum Aufbau einer vielfältigen inklusiven Betreuungslandschaft, die alle Kinder mitdenkt, fordern wir folgende mittel- und langfristige Maßnahmen:

  • Den Einbezug der Expertise von bereits inklusiv arbeitenden, aber auch heilpädagogischen Kitas mit Erfahrung in der Arbeit mit Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf sowie von Angehörigen.
  • Die Erhebung von Gelingens- und Hindernisfaktoren mit dem Schwerpunkt der sozialen Teilhabe von Kindern mit Behinderung im inklusiven Betreuungssetting.
  • Unterstützung und Beratung von Kita-Trägern bei der Erstellung und ganzheitlichen Umsetzung von Betreuungskonzepten für Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf. Dabei sollte es sich nicht nur um einmalige Beratung handeln, sondern um eine Prozessbegleitung.
  • Die Etablierung von vereinzelten landesweit tätigen Inklusionszentren mit Expertise auf dem Schwerpunkt „Inklusive Betreuung in der Kita von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf“. Die Aufgabe dieser Inklusionszentren wäre die Beratung der Kitas und (kommunalen) Kostenträger in Bezug auf spezielle Bedarfe der Kinder, Fortbildung der Fachkräfte, Organisationsentwicklung und Netzwerk- und Kooperationsarbeit.

3. Von Beratung über Bedarfsermittlung bis zur Weiterbewilligung: Die Umsetzung des Gesamt-/Teilhabeplanverfahrens bei Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf

Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf beziehen oft einen Leistungsmix von unterschiedlichen Kostenträgern. Das Teilhabe/Gesamtplanverfahren ist das gesetzliche Instrument leistungsberechtigte Personen durch den Verfahrensverlauf ab Antrag über Bedarfsermittlung bis zur bedarfsorientierten Leistung zu begleiten. Laut den uns vorliegenden Berichten kommt es in der aktuellen Praxis bei der Umsetzung des Teilhabeplanverfahrens zu Unregelmäßigkeiten und Ungereimtheiten.[19] So verzögert sich die Aushändigungen der (Folge-)Bescheide auf individuelle heilpädagogische Leistungen trotz rechtzeitiger Antragstellung bis weit in das Kita-Jahr hinein. Teilweise werden die hierfür gesetzlich vorgesehenen Fristen nach § 14 Abs. 2 SGB IX deutlich überschritten[20]. Die Bedarfsermittlung startet erst nach Aufnahme des Kindes in die Kita und Start des Kita-Jahres. Ein persönlicher Kontakt der Fallmanager*innen mit dem Kind und den Eltern vor Ort erfolgt in vielen Fällen nicht. Die Entscheidungen und Bewilligungen über den Leistungsumfang sind gegenüber Eltern und Kita-Trägern intransparent, so ist z.B. den Bescheiden nicht zu entnehmen wieso Kürzungen bei Stunden für Inklusionsassistenzen erfolgt sind. Eine Beratung über Art und Umfang eines bedarfsgerechten Leistungsmix mit relevanten Akteur*innen wie es in den Teilhabekonferenzen gesetzlich angedacht ist, erfolgt unregelmäßig und hängt von den Gegebenheiten der lokalen Netzwerk- und Koordinationsarbeit ab. In der aktuellen Situation ist eine fachgerechte ganzheitliche Bedarfsermittlung und Maßnahmenplanung für Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf mit dem Ziel der sozialen Teilhabe im Kita-Alltag nicht gewährleistet.
Durch das beschriebene Verwaltungshandelns befinden sich die Kinder und deren Familien in einer unsicheren Schwebesituation. Eltern können teilweise keiner Berufstätigkeit nachgehen bzw. müssen diese einschränken. Langjährige Kita-Assistenzen orientieren sich um, gewachsene Beziehungen der Kinder gehen verloren, Kita-Teams müssen immer wieder neues Personal einarbeiten bzw. finden kein neues.

Trotz der seitens der Leistungsträger kommunizierten Möglichkeit der Einzelfalllösung für Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf sehen wir dieses Handeln in der Praxis nicht. Dies könnte daran liegen, dass ein klarer Orientierungsrahmen, ab wann ein Kind einen erhöhten Unterstützungsbedarf hat, fehlt bzw. dieser nicht klar kommuniziert wird.

Zur unmittelbaren Entlastung der Situation bei Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf schlagen wir folgende Handlungsmaßnahmen bei der Umsetzung des Teilhabeplanverfahrens vor:

  •  Die Einhaltung der Frist nach § 14 Abs. 2 SGB IX.
  • Eine Bedarfsermittlung, vor Eintritt in die Kita, bei Kindern, bei denen ein hoher Unterstützungsbedarf bereits ersichtlich ist, muss möglich sein. Kriterien für eine vorzeitige Bedarfsermittlung können z.B. Gutachten von SPZs und Empfehlungen von Frühförderstellen und der betroffenen Kitas sein.
  • Die Bedarfsermittlung muss mit persönlichem Kontakt der Fallmanager*innen zum Kind und im Lebensumfeld des Kindes bzw. im Kita-Alltag erfolgen.
  • Über Art und Umfang von bewilligten Leistungen für Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf muss an einem „runden Tisch“ unter Beteiligung von Fachpersonen und Eltern beraten werden. Wir empfehlen die Durchführung mindestens einer Teilhabekonferenz z.B. bei Eintritt in die Kita. Bei Bedarf häufiger.
  •  Die ihpL nach der Rahmenleistungsbeschreibung[21] stellt eine zusätzliche Leistung dar, die nicht im Ausnahmefall, sondern nach dem Gesetz (BTHG) bedarfsorientiert immer dann erbracht bzw. bewilligt werden muss, wenn die Basisleistung I nicht ausreichend ist, um den individuellen Teilhabebedarf des Kindes zu decken.
  • Bei Kindern, bei denen abzusehen ist, dass der Bedarf an ihpL dauerhaft ist, sollte eine Entfristung bis zum Übergang in die Schule erfolgen. Dieses Vorgehen würde Bürokratie abbauen, alle Beteiligten entlasten und vor allem Eltern und Kita-Trägern eine Sicherheit für die Sicherstellung der Betreuung der Kinder geben.
  • Eltern müssen über alle Schritte des Teilhabeplanverfahrens informiert und entsprechend beraten werden.

Die Selbsthilfe steht allen beteiligten Akteur*innen für Rückfragen und konstruktive Gespräche zur Verfügung und beteiligt sich gerne an der Erarbeitung von Lösungsansätzen.

Düsseldorf, 08. November 2024


[1] Die Bezeichnung umfasst insbesondere folgenden Personenkreis: Kinder mit komplexer Behinderung, Kinder im Autismusspektrum, Kinder mit herausforderndem Verhalten, Kinder, die im Kita-Alltag eine umfassende Begleitung und/oder Pflege benötigen, ohne bereits gestellter Diagnose bzw. mit Verdachtsdiagnose. Ausschlaggebend ist der Unterstützungsbedarf der Kinder, der sich im Kita-Alltag ergibt

[2] Protokolle der Gemeinsamen Kommission: 27.09.24, TOP 5; 19.06.24, TOP 6;
  Protokoll der Neunten Arbeitsgemeinschaft Eingliederungshilfe 24.04.24, TOP 6 und 7

[3] ZUKUNFTSVERTRAG FUR NORDRHEIN- WESTFALEN; Koalitionsvereinbarung von CDU und GRÜNEN, S. 46

[4] siehe „im Einzelnen“ 2. und 3.

[5] siehe „im Einzelnen“ 2. und 3.

[6] siehe „im Einzelnen“ 2. und 3.

[7] Siehe „im Einzelnen“ 1. und 2.

[8] siehe „im Einzelnen“ 1. und 2.

[9] siehe „im Einzelnen“ 1. und 2.

[10] Sarimski, K. (2016): Soziale Teilhabe von Kindern mit komplexer Behinderung in der Kita. München: Ernst Reinhard. 17-27; Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2022): Forschungsbericht 613. Eltern von Kindern  mit Beeinträchtigungen – Unterstützungsbedarfe  und Hinweise auf Inklusionshürden. 52-62

[11] Kißgen, R., Austermühle J., Franke S., Limburg D. & Wöhrle, J. (2019): Rheinland-Kita-Studie: Inklusion von Kindern mit Behinderung. Abschlussbericht. 26ff; 109f; abrufbar unter: https://www.bildung.uni-siegen.de/rheinlandkitastudie/abschlussbericht_rheinlandkitastudie_final_190518.pdf  Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2022): Forschungsbericht 613. Eltern von Kindern  mit Beeinträchtigungen – Unterstützungsbedarfe  und Hinweise auf Inklusionshürden. 52-62

[12]  Brief der Lebenshilfe NRW an den LVR: „Der aktuelle Umgang mit individuellen heilpädagogischen Leistungen (ihpL) gefährdet akut die Teilhabe von Kindern mit Behinderung und Inklusion in Kitas“ vom 18. Oktober 2024.

[13] Offener Brief des lvkm.nrw vom 04. Juli 2024, abrufbar unter: www.lvkm-nrw.de/selbsthilfe; Offener Brief der Elterninitiative „Gemischte Tüte e.V.“ vom 27. September 2024, abrufbar unter: www.gemischtetuete.org/kita_assistenz

[14] Offener Brief der Elterninitiative „Gemischte Tüte e.V.“ vom 27. September 2024, abrufbar unter: www.gemischtetuete.org/kita_assistenz

[15] Die Spezifika sind nicht abschließend benannt.

[16] Kißgen, R., Austermühle J., Franke S., Limburg D. & Wöhrle, J. (2019): Rheinland-Kita-Studie: Inklusion von Kindern mit Behinderung. Abschlussbericht. 109ff; abrufbar unter: https://www.bildung.uni-siegen.de/rheinlandkitastudie/abschlussbericht_rheinlandkitastudie_final_190518.pdf  

[17] ebd. S. 15ff

[18] LVR (2024): Abschlussbericht der Task Force: Eingliederungshilfe im Elementarbereich. Vorlage Nr. 15/2581. 12

[19] Elternbefragung zum Thema „Ablauf und Ausgang“ der Bewilligungsverfahren beim LVR für das Kita-Jahr 2024-2025, abrufbar unter: www.gemischtetuete.org/kita_assistenz

[20] Ebd;  Brief der Lebenshilfe NRW an den LVR: „Der aktuelle Umgang mit individuellen heilpädagogischen Leistungen (ihpL) gefährdet akut die Teilhabe von Kindern mit Behinderung und Inklusion in Kitas“ vom 18. Oktober 2024.

[21] Der Landesrahmenvertrag nach § 131 SGB IX (NRW)

A.2.1 Heilpädagogische Leistungen in Tageseinrichtungen für Kinder)

Offener Brief des lvkm.nrw zum Rundschreiben Nr. 41/3/2024 „Eingliederungshilfeleistungen für Kinder mit (drohender) Behinderung – individuelle heilpädagogische Leistungen“

Sehr geehrte Frau Lubek, sehr geehrter Herr Dannat, sehr geehrte Damen und Herren,

der Landesverband für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung NRW e.V. (lvkm.nrw) ist ein landesweit tätiger Selbsthilfeverband mit insgesamt über 60 Mitgliedsorganisationen, die auch Dienstleistungen im Elementarbereich anbieten (Kitas, Frühförderstellen, Inklusionszentren etc.). Der lvkm.nrw ist kein eigenständiger Träger von Dienstleistungen der Eingliederungshilfe oder Kinder- und Jugendhilfe. Wir verstehen uns als unabhängiges Sprachrohr vor allem für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit hohen Unterstützungsbedarfen und deren Angehörige. Wir kommentieren kritisch Gesetzgebungen, Regelungen und Leistungsvereinbarungen zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern dann, wenn wir wesentliche Nachteile für die Lebenssituation der Betroffenen befürchten oder diese beseitigen möchten.

Das Rundschreiben Nr. 41/3/2024 „Eingliederungshilfeleistungen für Kinder mit (drohender) Behinderung – individuelle heilpädagogische Leistungen“ führte in den Reihen unserer Mitgliedsorganisationen, unter ihnen langjährige inklusive Kitas mit Erfahrungen in der Versorgung von Kindern mit hohen Unterstützungsbedarfen sowie Inklusionszentren, zu erhöhter Besorgnis in Bezug auf die Versorgung und Unterstützung von Kindern mit hohen Unterstützungsbedarfen in inklusiven Kindertageseinrichtungen.

Wir begrüßen die Zielsetzung der KiBiZ-Reform einer inklusiven und nachhaltigen KiTa-Landschaft in NRW. Wir stellen bei der aktuellen Umsetzung jedoch fest, dass die Begleitung von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf auch für bereits erfahrene und jahrelang inklusiv arbeitende Kindertageseinrichtungen zum aktuellen Zeitpunkt herausfordernd ist. Die Basisleistung I entspricht nicht den Bedarfen der Kinder mit hohen Unterstützungsbedarfen.
Hinzukommt, dass die Kitas, die bereits ein inklusives Konzept etabliert haben und leben, eine starke Nachfrage von Familien mit Kindern mit hohen Unterstützungsbedarfen erleben, was bei Aufnahme zu einer Konzentration an Kindern mit vielfältigen, speziellen Bedarfen führt. Da die Basisleistung II noch nicht verhandelt ist, sind die individuellen heilpädagogischen Leistungen eine Notwendigkeit, um eine adäquate Versorgung von Kindern mit hohen Unterstützungsbedarfen zu gewährleisten und ein wichtiger Baustein in der Etablierung eines inklusiven Settings. Wir unterstützen die Gesetzgebung in der Hinsicht, dass individuelle heilpädagogische Leistungen nur bewilligt werden, wenn es wirklich nötig ist. Wir machen jedoch die Beobachtung, dass die aktuelle Handhabung und Bewilligung von individuellen heilpädagogischen Leistungen uneinheitlich erfolgt. Somit kommt es vor, dass die Bearbeitungszeit oft so lange dauert, dass die Leistung erst verspätet einsetzt und die Kinder bis zur Bewilligung nicht in der Kita betreut werden können. Die daraus resultierende Belastung in der Familie verdeutlicht meist die Notwendigkeit einer Inklusionshilfe. Die Gewährung von individuellen Leistungen erst nach Eintrit in die Kita sehen wir als eine Verstärkung der beschriebenen Herausforderung im aktuellen inklusiven Kita-Alltag.

Die Auswirkungen der Situation in den Kitas auf den Lebensalltag von Kindern mit hohen Unterstützungsbedarfen und deren Familien sind erheblich.

So weisen die Erfahrungsberichte aus Inklusionszentren u.a. auf folgende Herausforderungen hin:

  • Kinder mit hohen Unterstützungsbedarfen erhalten seltener einen KiTa-Platz, u.a. aufgrund der Unsicherheit in Bezug auf Refinanzierung des Mehrbedarfs auf Seiten der Kitas.
  • Die Basisleistung I reicht nicht aus, um Kinder mit hohen Unterstützungsbedarfen in einem inklusiven Setting qualitativ gut zu versorgen. Laut unseren Beobachtungen kann die Qualität der Therapien in den inklusiven Kitas nachlassen, da z.B. externe Therapeuten in die Kitas kommen (Kind wird nicht im Alltag erlebt, wenig Flexibilität, um auf die Tagesform des Kindes einzugehen etc.) und ein erhöhter Abstimmungsbedarf im Team besteht.
  • Fachkräftemangel und hohe Krankheitsstände beim Personal wirken sich besonders nachteilig auf Familien mit Kindern mit hohen Unterstützungsbedarfen aus, da die Versorgung der Kinder in Zeiten der Notbetreuung schwieriger gewährleistet werden kann. Eltern von Kindern mit hohen Unterstützungsbedarfen müssen ihre Kinder daher häufiger zu Hause lassen. Sie haben auch seltener die Möglichkeit, auf ihr privates Umfeld zurückzugreifen. Das Nachgehen einer Berufstätigkeit wird für Eltern erschwert, die finanzielle Belastung in den Familien steigt.

Uns ist bewusst, dass die Bereitstellung von individuellen heilpädagogischen Leistungen nicht die alleinige Lösung der vielfältigen und komplexen Probleme ist. Jedoch empfinden wir das o.g. Rundschreiben in der aktuellen Situation als ein fatales und abschreckendes Signal an Kindertageseinrichtungen, Kinder mit hohen Unterstützungsbedarfen im inklusiven Setting zu betreuen.
Wir wünschen uns daher eine differenzierte Darstellung der Situation der inklusiven Kindertageseinrichtungen, die Kinder mit hohen Unterstützungsbedarfen aufnehmen und versorgen. Wir sehen es als dringend erforderlich, einen klaren Orientierungsrahmen für die Zugangsvoraussetzungen und Bewilligungskriterien für die individuellen heilpädagogischen Leistungen zu kommunizieren, um Unsicherheiten bei den Kita-Trägern vorzubeugen. Wir sprechen uns klar für die Möglichkeiten flexibler und personenorientierter Lösungen aus.

Sehr gerne sind wir zu einem näheren Austausch und der gemeinsamen Suche nach konstruktiven Lösungen, auch unter Heranziehung der Erfahrungen der benannten inklusiv arbeitenden Kitas und Inklusionszentren bereit und freuen uns über eine Rückmeldung Ihrerseits.

Mit freundlichen Grüßen

Marc Haine
Vorstand

Julia Fischer-Suhr
Geschäftsleitung

Kontakt:
Landesverband für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung NRW e.V.
Julia Fischer-Suhr
Brehmstraße 5-7
40239 Düsseldorf
Tel. 0174 802 58 03
Mail. j.fischer-suhr@lvkm-nrw.de

Fachtag und Delegiertenversammlung des Landesbehindertenrates NRW – „Rückbau ist gleich Rückschritt“

Am Samstag, den 8. Juni 2024 traf sich der Landesbehindertenrat NRW e.V. zu einem Fachtag mit anschließender Delegiertenversammlung in Düsseldorf. Neben Wahlen standen vielfältige Themen auf dem Programm, unter anderem Digitalisierung und Barrierefreiheit und der geplante Rückbau barrierefreier Umbauten in Stadien nach der Fußball-Europameisterschaft.

Ein Schwerpunkt des Fachtages waren die Themen Digitalisierung und Barrierefreiheit. Gero Büskens vom Kompetenzzentrum Selbstbestimmt Leben Düsseldorf (KSL Düsseldorf) das Projekt „Digitale Karte Barrierefreiheit“ vor. Das Projekt wurde gemeinsam mit dem Ratinger Beirat für Menschen mit Behinderung und der Stadt Ratingen ins Leben gerufen und zielt darauf ab, auf digitalen Stadtkarten barrierefreie Orte aufzuzeigen und im nächsten Schritt die Karten barrierefrei nutzbar zu machen. Geplant ist, die Ratinger Karten als Modellprojekt zu etablieren, deren Grundstruktur dann von anderen Städten und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen übernommen werden könnte. Wesentlich ist dabei die Zusammenarbeit mit Expert*innen in eigener Sache. 

Peter Gabor als Vorsitzender bestätigt

In der anschließenden Delegiertenversammlung wurde ein neuer Vorstand gewählt. Der amtierende Vorsitzende Peter Gabor wurde in seinem Amt bestätigt. Seine Devise lautet: Weg vom Papier hin zu praktischer Umsetzung. Neue stellvertretende Vorsitzende ist Kathrin Lemler vom Landesverband für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung NRW.

Gruppenfoto des neuen Vorstands des Landesbehindertenrats NRW, Hintere Reihe von links nach rechts: Helmut Etzkorn, Doris Langenkamp, Jeanette Severin, Kathrin Lemler (stellvertretende Vorsitzende), Peter Gabor (Vorsitzender), Karl Heinz Hoffmann, Vordere Reihe von links nach rechts: Gertrud Servos, Brigitte Piepenbreier, Maher Seger

Gruppenfoto des neuen Vorstands des Landesbehindertenrats NRW, Hintere Reihe von links nach rechts: Helmut Etzkorn, Doris Langenkamp, Jeanette Severin, Kathrin Lemler (stellvertretende Vorsitzende), Peter Gabor (Vorsitzender), Karl Heinz Hoffmann, Vordere Reihe von links nach rechts: Gertrud Servos, Brigitte Piepenbreier, Maher Seger

Barrierefreie Umbauten bestehen lassen

Nach lebhaften, aber konstruktiven Diskussionen endete die Delegiertenversammlung des Landesbehindertenrates NRW e.V. mit einem aktuellen und dringenden Appell an den Deutschen Fußball-Bund e.V. (DFB) und die Deutsche Fußball Liga GmbH (DFL). Zurzeit ist geplant, die barrierefreien Umbauten in den Stadien für die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland nach Ende des Turniers zurückzubauen. Fans, Verbände für Menschen mit Behinderungen und der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, zeigen sich darüber entsetzt. Der Landesbehindertenrat schließt sich entschieden an und fordert, die Umbauten bestehen zu lassen, weil Begegnungen im Sport Vorurteile abbauen und zu Inklusion beitragen. Peter Gabor sagt dazu: „Rückbau ist gleich Rückschritt und der geplante Rückbau deshalb unverständlich“.

Wir halten zusammen! – Resolution des Inklusionsbeirates Nordrhein-Westfalen vom 07. Juni 2024 

Resolution des Inklusionsbeirates Nordrhein-Westfalen vom 07. Juni 2024 

 In der Nacht auf den 27. Mai 2024 haben Unbekannte einen Anschlag auf eine Wohneinrichtung der Lebenshilfe für Menschen mit Behinderungen in Mönchengladbach-Giesenkirchen verübt. Tatwaffe war ein Ziegelstein mit der Aufschrift „Euthanasie ist die Lösung“. Daher ist von einem rechtsextremen Motiv auszugehen. Der polizeiliche Staatsschutz hat Ermittlungen aufgenommen. 

Mit der Aufschrift des Ziegelsteins wird auf das „Euthanasieprogramm“ der Nationalsozialisten ab 1939 angespielt, die das Leben von Menschen mit Behinderungen oder Erkrankungen als „unwert“ betrachteten. Im Rahmen der „Euthanasie“ wurden hunderttausende Menschen Opfer eines systematischen Massenmordes. 

Der Inklusionsbeirat Nordrhein-Westfalen verurteilt den Anschlag auf das Schärfste. Die Tat und die Bezugnahme auf rechtsextremes Gedankengut machen deutlich, wie wichtig es ist, sich geschlossen und solidarisch gegen Hass und Hetze zu stellen. 

Der Inklusionsbeirat Nordrhein-Westfalen ist besorgt über die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Denn: Aus hasserfüllten Worten werden Taten. 

Wer Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen verherrlicht oder gar fordert, greift die ganze Gesellschaft an. Das Land Nordrhein-Westfalen ist ein offenes und tolerantes Land. Die Vielfalt aller Menschen gestaltet unser Land und macht uns stark. 

Unsere demokratische Gesellschaft basiert auf der Achtung der Menschenrechte. 

Diese zu wahren und die Inklusion von Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen zu verwirklichen, ist Anliegen des Inklusionsbeirates Nordrhein-Westfalen: 

Wir halten zusammen! 

Nach der Staatenprüfung Deutschlands: Umsetzung der UN-BRK in NRW jetzt!

Gemeinsame Forderungen der Behindertenverbände und -organisationen

Am 26.03.2009 trat in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Kraft und hat den Rang eines Bundesgesetzes. Spätestens mit dem Inkrafttreten sind alle staatlichen Stellen in Deutschland dazu verpflichtet, angemessene Vorkehrungen zu ergreifen, um die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an allen Lebensbereichen sicher zu stellen. Während die Organisationen der Menschen mit Behinderungen schon damals eine schnelle Umsetzung forderten, sprachen viele Verantwortungsträger von einem „Generationenprojekt“, das nur nach und nach umgesetzt werden könne. Zwischenzeitlich sind 15 Jahre vergangen. Nach dem Maßstab des Zeitraums einer Generation ist damit „Halbzeit“ – und wir ziehen Bilanz unter Einbeziehung der Empfehlungen des Staatenprüfverfahrens der Vereinten Nationen.

Am 29./30. August 2023 fand die zweite Prüfung der Umsetzung der UN-BRK in Deutschland durch den UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen statt. Am Ende des Staatenprüfverfahrens stehen die neuen „Abschließenden Bemerkungen zum 2. / 3. Staatenbericht Deutschlands“ des Ausschusses, in denen dieser Empfehlungen und Forderungen an Deutschland richtet, wie die UN-BRK besser umgesetzt werden soll. Bund, Länder und Kommunen sind aufgerufen, sich der Umsetzungsaufträge in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich anzunehmen. Die Empfehlungen setzen damit wegweisende Akzente für die weitere Umsetzung der UN-BRK auch in NRW. Im Zentrum der Kritik des UN-Ausschusses an Deutschland steht das immer noch hochentwickelte System von Sonderstrukturen – in der Bildung, bei der Beschäftigung in Werkstätten oder bei der Unterbringung in großen stationären Wohneinrichtungen, mit der dringenden Empfehlung der Entwicklung und Umsetzung von zielgerichteten politischen Strategien zur Deinstitutionalisierung, damit Menschen mit Behinderung selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Darüber hinaus bedürfe es deutlich strengerer gesetzlicher Vorgaben zur Umsetzung von Barrierefreiheit im privaten Sektor, etwa im Wohnungsbau oder im Gesundheitssektor. Zudem müsse die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen geachtet und Maßnahmen zu Zwangsvermeidung und Gewaltschutz in psychiatrischen Einrichtungen und Einrichtungen der Eingliederungshilfe dringend verstärkt werden.

Die Prüfung der Vereinten Nationen hat deutlich gemacht, dass Deutschland nicht genug tut, um seine verbindlichen Verpflichtungen aus der UN-BRK zu erfüllen. Wir erwarten, dass sich die Landesregierung NRW stärker für Inklusion und die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen einsetzt und wirksame Maßnahmen zur Umsetzung der UN-BRK gemäß den folgenden Ausführungen ergreift.

1. Arbeitsmarkt

Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf Arbeit in einem inklusiven Arbeitsmarkt. Diese Arbeit muss den Lebensunterhalt sichern und frei gewählt werden können. Der Zugang zum Arbeitsmarkt funktioniert hochgradig selektiv und bleibt Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen zu oft verwehrt. Seit einem Jahrzehnt steigt die Zahl der arbeitslosen schwerbehinderten Menschen in NRW wieder an, auch gegen allgemein positive Trends. Menschen mit Behinderung sind nicht nur überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen, auch Zahl und Dauer der Langzeitarbeitslosigkeit unter ihnen ist gestiegen. Dabei liegt die Zahl der unbesetzten (fehlbesetzten) Pflichtplätze seit Jahrzehnten deutlich über der Zahl der schwerbehinderten Arbeitslosen. Vor allem viele private Arbeitgeber kommen ihrer gesetzlichen Beschäftigungspflicht nicht oder nicht ausreichend nach.

Diese Entwicklung wird auch in den „Abschließenden Bemerkungen“ des Staatenprüfverfahrens deutlich kritisiert. So zeigt sich der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen unter anderem besorgt über:

  • die hohe Arbeitslosigkeit unter Menschen mit Behinderungen, insbesondere von Menschen mit intensivem Unterstützungsbedarf, die große Zahl von Menschen mit Behinderungen, die in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen arbeiten und deren niedrige Übergangsquote zum offenen Arbeitsmarkt;
  • unzureichende gesetzliche Maßnahmen, die die barrierefreie Zugänglichkeit von und angemessene Vorkehrungen an Arbeitsstätten gewähren und den privaten Sektor in die Pflicht nehmen, die Einstellungsquoten für Menschen mit Behinderungen einzuhalten;
  • das Fehlen von barrierefrei zugänglichen und inklusiven Einrichtungen, die Berufsausbildung und Verfahren, die Diskriminierung und Segregation beseitigen, anbieten

Der Ausschuss empfiehlt daher:

  • in enger Konsultation mit Organisationen von Menschen mit Behinderungen und unter deren aktiver Mitwirkung einen Aktionsplan zu entwickeln, mit dem der Übergang von Menschen mit Behinderungen in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen auf den offenen Arbeitsmarkt in allen Bundesländern gefördert wird, und der einen geeigneten, mit Ressourcen ausgestatteten und zeitlich festgelegten Rahmen vorgibt;
  • die Beschäftigungsquote von Menschen mit Behinderungen sowohl auf dem öffentlichen als auch auf dem privaten Sektor, unter anderem durch wirksamere Maßnahmen als die derzeitige Ausgleichsabgabe, durchzusetzen und die barrierefreie Zugänglichkeit von und angemessene Vorkehrungen an Arbeitsstätten sicherzustellen;
  • das Berufsbildungssystem neu zu strukturieren und Maßnahmen zu ergreifen, mit denen die barrierefreie Zugänglichkeit und Inklusion gewährleistet werden, unter anderem durch Einrichtung eines Beschwerdemechanismus, in dessen Rahmen diskriminierende Praktiken auf der Grundlage von Behinderung auf dem Gebiet der beruflichen Rehabilitation und Arbeit ermittelt werden.

Ziel: Inklusiver Arbeitsmarkt

All dies macht deutlich, dass es zur Annäherung an eine menschenrechtskonforme Erwerbsgesellschaft, die die freie Wahl des Arbeitsplatzes und die Sicherung des Lebensunterhaltes ermöglicht, einer inklusiven Neuordnung des Arbeitsmarkts bedarf. Dabei kann es aber nicht um die Eröffnung von Sonderarbeitsmärkten gehen, sondern um die Entwicklung einer Strategie und die Einführung von gezielten Maßnahmen, mit denen auch Menschen, die heute aus dem regulären Arbeitsmarkt ausgesondert werden, einen Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt erhalten. Auch die NRW-Landesregierung muss sich endlich dieser Aufgabe stellen und zum inklusiven Umbau des Arbeitsmarkts beitragen.

Anforderungen an Arbeitsstätten

Dafür sind als Sofortmaßnahme in der Landesbauordnung NRW bauliche Barrierefreiheitsanforderungen für Arbeitsstätten vorzugeben, unabhängig davon, ob bereits ein Mensch mit Beeinträchtigung beschäftigt wird. Zudem ist darauf hinzuwirken, dass die Arbeitsstättenverordnung entsprechende bundesweite Regelungen vorsieht. Als weitere notwendige Maßnahmen zur Gestaltung eines inklusiven Arbeitsmarktes sehen wir Bereitstellung notwendiger Ausstattung sowie die Weiterentwicklung geeigneter Zugangs- und (technischer) Unterstützungsmöglichkeiten. Die Landesregierung muss die Sichtbarkeit „unsichtbarer Behinderungen“ (psychisch und geistig Behinderte, Kommunikationsbehinderte, chronisch Kranke) herstellen und die Arbeitgeber darüber aufklären, welche Erfordernisse und konkrete Barrierefreiheiten auch für nicht ausschließlich körperlich eingeschränkte Behinderte bestehen müssen. Dazu ist eine Informations- und Aufklärungskampagne ins Leben zu rufen.

Abbau der Arbeitslosigkeit behinderter Menschen

Wir fordern eine wirksame Landesinitiative zum Abbau der Arbeitslosigkeit behinderter Menschen. Ein zentraler Ansatzpunkt muss sein, Arbeitgeber dazu anzuhalten, ihrer gesetzlichen Pflicht zur Beschäftigung schwerbehinderter oder ihnen gleichgestellter Menschen umfassend nachzukommen. Es gibt nur eine „Handvoll“ Budgets für Arbeit, von den Budgets für Ausbildung ganz zu schweigen. Das Land Nordrhein-Westfalen steht sicherlich vor dem Problem, keinen unmittelbaren Einfluss auf die entsprechenden bundesgesetzlichen Regelungen zu haben, dennoch kann es mit entsprechenden Informationsangeboten die Nutzung des Budgets für Arbeit unterstützen. Das Budget für Arbeit und das Budget für Ausbildung müssen deutlich besser beworben werden und dieses arbeitsfördernde Mittel muss eine deutlich größere Aufmerksamkeit erhalten.

Verbesserungen für Beschäftigte in den WfbM

Damit Menschen mit Behinderung ihren Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit sichern können, muss aber auch über die Höhe der Werkstattlöhne und die Abschaffung der insoweit bestehenden Ausnahmen vom Mindestlohn diskutiert werden. In diese Überlegungen sind selbstverständlich auch die in den Werkstätten für behinderte Menschen Beschäftigten einzubeziehen.

Wir verweisen im Weiteren auf das vom Inklusionsbeirat im Frühjahr 2023 beschlossene Forderungspapier zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit behinderter Menschen, zu dessen Umsetzung wir die Landesregierung hiermit dringend ermahnen.1

2. Gesundheit

Menschen mit Behinderung haben genau wie alle anderen Versicherten das Recht auf eine qualitativ hochwertige gesundheitliche Versorgung, unabhängig von ihrem Wohnort und der Art der Beeinträchtigung. Der gleichberechtigte Zugang zu einer qualitativ hochwertigen gesundheitlichen Versorgung ist in der Praxis in NRW bisher bei weitem nicht realisiert. Die Landesregierung hat sich im Koalitionsvertrag darauf verständigt, ein „Maßnahmenpaket zur Förderung von Inklusion und Diversität im Gesundheitswesen“ aufzulegen, das bisher noch nicht erkennbar ist.

Auch der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zeigt sich unter anderem besonders besorgt über:

  • fehlende Barrierefreiheit und Mangel an Fachkräften, die in der Kommunikation und im Bereitstellen von Informationen in barrierefrei zugänglichen Methoden und Formaten in Einrichtungen des Gesundheitswesens geschult sind, insbesondere für Frauen mit Behinderungen und in ländlichen Gebieten, sowie über die Tatsache, dass Menschen mit Behinderungen teilweise lange Anreisewege zurücklegen müssen, um barrierefreie medizinische Versorgung zu erhalten;
  • die Tatsache, dass Menschen mit intellektueller und/oder psychosozialer Beeinträchtigung und Menschen, die gehörlos oder schwerhörig sind, aufgrund der fehlenden Ausbildung von Angehörigen der Gesundheitsberufe und deren diskriminierender Herangehensweise seltener eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung erhalten.

Der Ausschuss empfiehlt Deutschland deshalb unter anderem:

  • Maßnahmen zu ergreifen, um die Verfügbarkeit und barrierefreie Zugänglichkeit von Gesundheitsleistungen in allen Bundesländern, insbesondere für Frauen mit Behinderungen und in ländlichen Gebieten, ohne Diskriminierung zu gewährleisten, indem Barrieren identifiziert und beseitigt sowie barrierefreie medizinische Ausstattung bereitgestellt werden;
  • Instrumente für die regelmäßige Schulung von Gesundheitsfachkräften über die Menschenrechte, die Würde, die Autonomie und die Bedarfe von Menschen mit Behinderungen zu stärken.

Barrierefreie haus- und fachärztlichen Versorgung

Es fehlen in allen Sparten der haus- und fachärztlichen Versorgung barrierefrei auffindbare, zugängliche und nutzbare ambulante Praxen. Dies gilt ebenso für therapeutische Praxen (Psychotherapie, Ergotherapie, Physiotherapie, Soziotherapie) sowie für weitere Gesundheitseinrichtungen. Auch in vielen Bereichen der stationären gesundheitlichen Versorgung ist die Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen nicht im notwendigen Maße gewährleistet.

Im Rahmen der medizinischen Versorgung von Menschen mit Behinderungen stellen wir immer wieder fest, dass auch gerade die stationäre Versorgung eine unüberwindbare Hürde für die Menschen mit Behinderung darstellt.

Rehabilitation als gleichrangiger Schwerpunkt der Gesundheitsversorgung

Wir fordern vor diesem Hintergrund, dass Rehabilitation ein gleichrangiger Schwerpunkt der Gesundheitsversorgung wird. Es sind gerade Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen sowie ältere Menschen, die von fehlenden oder nicht barrierefrei erreichbaren oder nutzbaren rehabilitativen Angeboten besonders betroffen sind. Der Grundsatz der Rehabilitation vor und bei Pflegebedürftigkeit muss endlich verwirklicht und Angebote – vor allem der ambulanten Rehabilitation – flächendeckend gefördert werden.

Begleitung im Krankenhaus

Die Möglichkeit, eine Begleitperson ins Krankenhaus mitzunehmen, muss auf alle Menschen ausgedehnt werden, die aufgrund von körperlichen bzw. kognitiven Einschränkungen auf persönliche Assistenz angewiesen sind. Zugleich muss das Angebot psychotherapeutischer Versorgung flächendeckend ausgebaut werden, um insbesondere Wartezeiten auf einen Behandlungsplatz zu reduzieren.

Patient*innen orientierte, sektorenübergreifende Planung der Gesundheitsversorgung

Uns ist bewusst, dass all diese Aufgaben nicht alleine in NRW lösbar sind. Jedoch muss die nordrheinwestfälische Politik und Selbstverwaltung des Gesundheitswesens im Zusammenwirken mit der Bundesebene wirksame Maßnahmen zur Gewährleistung einer flächendeckend bedarfsgerechten, barrierefreien, wohnortnahen und qualitativ hochwertigen ambulanten und stationären Gesundheitsversorgung treffen. Um dies zu realisieren, ist nicht zuletzt die Überwindung der verfestigten Versorgungsstrukturen in ambulant und (teil)stationär, auch in der Notfallversorgung, hin zu einer am Bedarf der Patient*innen orientierten, sektorenübergreifenden Planung der Gesundheitsversorgung notwendig.

Im Weiteren sei hier unter anderem verwiesen auf das in den Fachbeirat Gesundheit eingespeiste Empfehlungspapier: „Barrierefreie Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderungen aus Sicht der Selbsthilfe“.

3. Barrierefreiheit

Barrierefreiheit ist eine notwendige Voraussetzung, um das Menschenrecht auf ein selbstbestimmtes Leben und eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und gesundheitlichen Einschränkungen verwirklichen zu können. Gebäude, Verkehrssysteme, Dienstleistungs-, Informations- oder Kommunikationsangebote sind barrierefrei, wenn sie für alle Menschen auffindbar, zugänglich und nutzbar sind, so dass auch Menschen mit Behinderungen sie in der allgemein üblichen Weise ohne besondere Erschwernis nutzen können.

Das Behindertengleichstellungsgesetz NRW bekennt sich zu dieser Zielsetzung, und die UNBRK verpflichtet Bund, Länder und Gemeinden zur Feststellung und Beseitigung vorhandener Barrieren und zur Gewährleistung von Barrierefreiheit.

Dies bestätigt auch der aktuelle Staatenbericht. So betont der UN-Fachausschuss in den Abschließenden Bemerkungen an diversen Stellen, dass Deutschland in zahlreichen Bereichen für Barrierefreiheit sorgen und angemessene Vorkehrungen für den Fall (noch) nicht vorhandener Barrierefreiheit bereitstellen soll. Dies betrift nicht nur öffentlich-rechtliche, sondern vor allem auch privatrechtliche Bereiche. So etwa für die Öffentlichkeit angebotene Dienstleistungen und Produkte, den Wohnungsbau, das Gesundheitswesen sowie die Bereiche Bildung, Ausbildung, Arbeit, Verkehr, Informationen, Sport, Kunst, Kultur, Wahlen und Justiz. Hierbei kommt den Trägern öffentlicher Belange in den Bundesländern sowie den Kommunen, deren Einrichtungen und Unternehmen eine wichtige Vorbildfunktion zu.

Barrierefreies Bauen

Wohnen ist Menschenrecht. Und für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen sind barrierefrei zugängliche und nutzbare Wohnungen nicht zuletzt eine wesentliche Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Der aktuelle Mangel an Wohnraum in Nordrhein-Westfalen wirkt sich daher gerade auch auf Menschen mit Behinderung aus. So sind barrierefreie Wohnungen – bezahlbare zumal – nur selten verfügbar. Denn von einem ausreichenden Angebot an barrierefreien Wohnungen kann erst gesprochen werden, wenn der Mensch mit Behinderung aus seiner barrierefreien Wohnung auch in eine solche in einem anderen Ort seiner Wahl umziehen kann. Um dies perspektivisch erreichen zu können, muss barrierefreies Bauen zum allgemeinen Standard werden. Daher fordern wir weitere gesetzliche Verbesserungen in der Landesbauordnung und die Aufhebung von Ausnahmenregelungen in der „Verwaltungsvorschrift technische Baubestimmungen (VV TB)“. Dies muss bei Arbeits- und Ausbildungsstätten auch beinhalten, dass sie ohne aufwendige Umbaumaßnahmen für Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen (z.B. beim Mobilitätseinschränkung oder Sinnesbehinderung) uneingeschränkt nutzbar sind. Auch fordern wir unter anderem die Aufhebung des § 39 Absatz 4 Bauordnung NRW, da die in § 39 Absatz 4 Bauordnung NRW geregelte Ausnahme von der Aufzugspflicht eine Barriere darstellt, die nach der UN-BRK zu beseitigen ist. Ebenso sind die Ausschlüsse zu „Warnen/Orientieren/Leiten“ bzw. „Alarmieren und Evakuieren“ zurückzunehmen – das Zwei-Sinneprinzip ist in diesen Bereichen unverzichtbar.

Wir fordern, dass die Vorgaben der Bauordnung NRW auch für genehmigungsfreie Bauvorhaben gelten. Wir fordern die Pflicht zum barrierefreien Umbau bestehender Gebäude. Wir fordern, dass das Land Nordrhein-Westfalen für die Barrierefreiheit seiner Gebäude gemäß dem BGG NRW sorgt.

Die Einhaltung dieser Standards müssen endlich von den Bauaufsichtsbehörden qualifiziert überwacht und Verstöße als Ordnungswidrigkeit geahndet werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass neue Gebäude in öffentlicher oder privater Hand, die für die Allgemeinheit bereitgestellt werden, von vornherein barrierefrei errichtet werden.

Die baulichen Gegebenheiten sind weit überwiegend vom Bestand geprägt und werden vom Neubau nur in geringem Umfang beeinflusst. Deshalb ist ein systematischer Barriereabbau im Bestand unumgänglich. Wir fordern das Land und die Kommunen auf, ihrer Verpflichtung zur Feststellung und schrittweisen Beseitigung bestehender Barrieren endlich nachzukommen. Hierzu bedarf es einer verbindlichen landesrechtlichen Regelung.

Förderung von Wohnraum für Menschen mit Behinderungen

Nach der UN-BRK müssen auch pflegebedürftige Menschen die gleichberechtigte Möglichkeit haben, ihren Wohn- und Lebensort zu wählen und zu entscheiden, mit wem sie leben. Sie dürfen nicht verpflichtet sein, in gesonderten Wohnformen zu leben. Um dies zu verwirklichen, bedarf es neben barrierefreiem Wohnraum auch der erforderlichen ambulanten Pflege- und Unterstützungsangebote, einschließlich persönlicher Assistenz. Zudem müssen Angebote zur gesundheitlichen Versorgung und zur Deckung alltäglicher Lebensbedarfe barrierefrei und quartiersnah erreichbar sein. Eine quartiersorientierte kommunale Stadtentwicklungs- und Infrastrukturplanung muss diesen Erfordernissen regelhaft Rechnung tragen.

Wir fordern eine bedarfsgerechte Vergabe von gefördertem Wohnraum, insbesondere für Menschen mit Körper-, Sinnes- und geistigen Beeinträchtigungen. Wir können insoweit das Land nur ermutigen, weiterhin über die NRW Bank den Bau von barrierefreiem Wohnraum zu fördern und dies durch entsprechende Förderprogramme zu begleiten. Hierbei sprechen wir uns für die Förderung von ambulanten Wohnsettings und kleinen Wohneinheiten in den Wohnformen aus. Wir widersprechen der Auffassung des Landes NRW aus, dass Einrichtungen der Eingliederungshilfe mit 24 Wohneinheiten (zzgl. Krisenzimmer) eine angemessene Wohnform sind. Kleinere Wohneinheiten müssen zur Standard- und nicht zur Ausnahmeregel werden. Grundsätzlich muss es eine Wahlmöglichkeit für die Menschen mit Behinderung geben. Wir fordern darüber hinaus, den Ausbau von ambulanten Unterstützungssettings wie der 24/7 Begleitung für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf.

Umsetzung und Ausweitung des BGG NRW

Wir fordern vom Land Nordrhein-Westfalen, dass es selbst die Vorgaben aus dem Behindertengleichstellungsgesetz Nordrhein-Westfalen (BGG NRW) vollständig umsetzt und dafür sorgt, dass dies auch die weiteren staatlichen Organisationen tun, für die das BGG NRW gilt (vgl. § 2 IGG NRW). Wir stellen immer wieder fest, dass es gerade im Bereich von privaten Anbietern keinen wesentlichen Fortschritt bei der Umsetzung der Ziele der UN-BRK, der Beseitigung der Barrieren, die ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen gibt. Wir fordern deshalb die Ausweitung des BGG NRW auf private Anbieter wie es auch im Rahmen einer Novelle des BGG auf Bundesebene geplant ist. Dabei sollte die rechtliche Definition „angemessener Vorkehrungen“ gemäß Artikel 2 des Übereinkommens geschärft werden.

Barrierefreier ÖPNV

Von einer Erreichung des im Personenbeförderungsgesetz gesetzten Ziels, wonach der ÖPNV bis zum 01.01.2022 barrierefrei sein sollte, sind wir in NRW weit entfernt. Davon zeugen vielerorts insbesondere fehlende oder kaputte Lifte, zu hohe Einstiegshöhen oder fehlende Hilfen für Menschen mit Sinnesbehinderungen. Dies umfasst nicht nur die gerade genannten Forderungen, sondern auch, die Barrieren für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen oder mit Hörbeeinträchtigungen zu beseitigen. Davon abgesehen muss das Land aber auch für eine tatsächlich flächendeckende Versorgung mit öffentlichen Verkehrsmitteln sorgen, da diese für viele Menschen mit Behinderungen eine der Voraussetzung für die selbstbestimmte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ist. Die örtlichen und regionalen Nahverkehrsträger sind gefordert, Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr unverzüglich umzusetzen. Dazu muss auch das Land seine Anstrengungen erhöhen, die Kommunen bei der Umsetzung von vollständiger Barrierefreiheit im ÖPNV finanziell zu unterstützen. Auch müssen die Möglichkeiten zur fachlichen Begleitung bei der Schaffung von Barrierefreiheit durch die vom Land finanzierte Agentur barrierefrei NRW ausgebaut werden. Das Land muss außerdem seine Möglichkeiten nutzen, um auf eine barrierefreie Umgestaltung im Bahnfernverkehr hinzuwirken.

Verwiesen sei hier abschließend noch auf die vielfachen, auch verbändeübergreifenden Forderungen insbesondere zur Landesbauordnung und den Technischen Baubestimmungen.

4. Bildung

Um das Menschenrecht auf Bildung ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, fordert die UN-BRK ein inklusives Bildungssystem von der Kita bis zur Hochschule und lebenslanges Lernen.

Seit Jahrzehnten werden vielfältige Mängel unseres Regelschulsystems diskutiert, aber greifbare Perspektiven zu ihrer Behebung blieben außer Sicht. Vielfach fehlen nicht nur Räume für zusätzliche Klassen, sondern mancherorts ganze Schulen, Gesamtschulen zumal. So trifft die Forderung nach einem inklusiven Schulsystem in NRW auf ein marodes Regelschulsystem, das auch für Schüler*innen ohne Beeinträchtigung teils kaum zumutbar ist. Land und Kommunen, aber auch der Bund müssen sich endlich der doppelten Herausforderung stellen, das Bildungssystem instand zu setzen und zugleich inklusiv umzubauen.

Diese Zustandsbeschreibung entspricht auch den Darlegungen im Staatenbericht. Darin zeigt sich der Ausschuss besorgt über die -unzureichende Umsetzung von Inklusion im gesamten Bildungssystem, die starke Verbreitung von Förderschulen sowie die verschiedenen Barrieren, auf die Kinder und mit Behinderungen und ihre Familien stoßen, wenn sie Regelschulen besuchen wollen. Insbesondere monierte er

  • das Fehlen zielgerichteter Instrumente zum Ausbau inklusiver Bildung auf Ebene der Bundesländer und Kommunen;
  • das falsche Verständnis und die nega􀆟ve Wahrnehmung von inklusiver Bildung auf Seiten einiger Regierungs- und Verwaltungsorgane;
  • die fehlende barrierefreie Zugänglichkeit und fehlende Vorkehrungen in öffentlichen Schulen und das Fehlen barrierefrei zugänglicher Verkehrsmi􀆩el, vor allem in ländlichen Gebieten;
  • die unzureichende Schulung von Lehrer*innen und nicht lehrendem Personal in Bezug auf das Recht auf inklusive Bildung, die unzureichende Entwicklung spezifischer Fähigkeiten und Lehrmethoden und der berichtete Druck auf Eltern, Kinder mit Behinderungen in Förderschulen anzumelden.

Inklusives Schulsystem

Die Schaffung eines inklusiven Schulsystems bedeutet, die Regelschulen zu befähigen, ihrem Bildungsauftrag mit bestmöglicher individueller Förderung für alle Schüler*innen nachkommen zu können – ob arm oder reich, ob beeinträchtigt oder hochbegabt. Die soziale Selektivität des Regelschulsystems ist maßgeblich Folge der frühen Verteilung der Schüler*innen auf unterschiedliche weiterführende Schulformen auf Basis von Vermutungen über ihre künftige Entwicklungsfähigkeit. Stattdessen brauchen wir gut ausgestattete Schulen des gemeinsamen Lernens, die jedem Kind und Jugendlichen mit individuell differenzierter Förderung ermöglichen, sein oder ihr bestmögliches Bildungsziel zu erreichen.

Inklusion überzeugt, wenn Eltern sehen, dass die inklusive Regelschule ein guter Lern- und Förderort für Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen ist. Dazu müssen Lehr- und Assistenzkräfte auf besondere Bedürfnisse beeinträchtigter Schüler*innen eingehen und ihre Bedarfe decken können. Und die Schulen sowie der Unterricht müssen generell barrierefrei werden. Nach Jahrzehnten zahlreicher wissenschaftlich begleiteter Schulversuche wissen wir gut, wie Inklusion gelingen kann. Im Interesse der künftigen Generationen muss es jetzt darum gehen, die lange überfällige Sanierung und den inklusiven Umbau des Regelsystems anzugehen und die dazu erforderlichen Ressourcen zu mobilisieren. Der UN-Ausschuss empfiehlt unter anderem die Aufstellung eines umfassenden Plans zur Beschleunigung des Übergangs von Förderschulen zu inklusiver Bildung auf Ebene der Bundesländer und Kommunen (mit Zeitplänen, klaren Verantwortlichkeiten und finanziellen Ressourcen sowie klare Verantwortlichkeiten für die Umsetzung und Überwachung).

Die notwendige Reformperspektive heißt inklusive Regelschule und speziell für Gehörlose inklusive Schwerpunktschulen mit zweisprachigem Unterricht. Den damit verbundenen weitreichenden Herausforderungen müssen sich Land und Kommunen endlich stellen. Mit einem Aktionsplan inklusive Bildung“, der mit den entsprechenden Finanzmitteln und zeitlichen Umsetzungshorizonten unterlegt ist, muss die Landesregierung die Aufgabe endlich systematisch angehen. Der Bund bleibt gefordert, den Modernisierungs- und Umbauprozess zu unterstützen.

Inklusive KiTas

Wir sehen Defizite bei der Umsetzung der UN-BRK leider auch im Bereich der Kindertagesstätten. Das NRW-Kinderbildungsgesetz stattet die Kindertageseinrichtungen noch immer nicht so aus, dass sie dem Recht aller Kinder auf eine inklusive Bildung und Erziehung flächendeckend entsprechen können. Hier sei darauf verwiesen, dass es immer noch reine heilpädagogischen Einrichtungen gibt, denen Kinder mit komplexen und mehrfachen Beeinträchtigungen zugewiesen werden, weil sie im Regelsystem nicht angemessen versorgt werden können. Im Bereich der KiTas wird die Forderung der UN-BRK nach inklusiven KiTas nur schleppend im Land Nordrhein-Westfalen umgesetzt. Gerade in diesem Bereich, der politischen Willen zur Umsetzung der UNBRK zeigen könnte, stocken die Verhandlungen zwischen den Leistungserbringern und den Landschaftsverbänden. Ein weiteres großes Problem ist, dass die individuellen Unterstützungsbedarfe der betroffenen Kinder nur teilweise gedeckt oder regelmäßig gar nicht gedeckt werden. Denn es fehlt sowohl an den erforderlichen Räumlichkeiten in den Kindertageseinrichtungen, aber auch am erforderlichen Fachpersonal. An dieser Stelle möchten wir auch die Kommunen in die Pflicht nehmen, die UN-BRK zur Richtschnur ihres Handelns zu machen. Z.B. müssen die Jugendhilfeplaner Kinder mit Behinderungen mit in ihren Fokus nehmen und ihre Bedarfe bei Aus- und Neubauprogrammen mitdenken.

Weiterführenden bzw. außerschulischen Bildung

Der Anspruch auf Bildung hört beim Abschluss der Schule nicht auf. Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf lebenslanges Lernen. Im Kontext der weiterführenden bzw. außerschulischen Bildung sind seitens des Landes NRW nur unzureichend Maßnahmen für Erwachsene mit Behinderungen geplant und umgesetzt. Einer Bildungsverpflichtung zur inklusiven Erwachsenenbildung kommt die Landesregierung nicht nach.

Wir fordern daher:

  • Einrichtungen der Erwachsenenbildung müssen Menschen mit Behinderungen als Zielgruppe ihre Veranstaltungen öffnen und Zugänge verschaffen. Die Teilnahme an Bildungsveranstaltungen muss Menschen mit Behinderungen im § 2 Abs. 6 Weiterbildungsgesetz (WBG NRW) uneingeschränkt zugesichert werden und darf nicht an finanziellen und baulichen/technischen Barrieren scheitern.
  • Menschen mit Behinderungen müssen in die inklusive Erwachsenenbildung einbezogen und als Lehrende qualifiziert werden.

Im Weiteren sei hier unter anderem verwiesen auf die bereits bekannten und weiterhin aktuellen Forderungen des verbändeübergreifenden „Bündnis für inklusive Bildung in NRW“ und den Forderungen des Landesbehindertenrates Inklusive Bildung in NRW: Artikel 24 UN-BRK umsetzen – ein inklusives Bildungssystem als Regelschulsystem aufbauen.2

5. Partizipation

Nichts über uns ohne uns!

Diese jahrzehntealte Forderung der Behindertenbewegung unterstützen die Abschließenden Bemerkungen, in denen sich der UN-Fachausschuss nicht nur besorgt zeigt über die unzureichenden Ressourcen der staatlichen Anlaufstellen zur Umsetzung der UN-BRK, sondern auch über die begrenzte Beteiligung von Organisationen der Menschen mit Behinderungen an Umsetzungsprozessen. Der Ausschuss empfiehlt Deutschland deshalb institutionalisierte Verfahren für eine enge Konsultation mit und aktive Partizipation von Organisationen von Menschen mit Behinderungen, einschließlich Organisationen von Kindern mit Behinderungen, in allen sie betreffenden Angelegenheiten, zu entwickeln und umzusetzen.

Darüber hinaus empfiehlt der Ausschuss unter anderem:

  • Maßnahmen zu ergreifen, um barrierefreie Zugänglichkeit, Kommunikation und Auffindbarkeit und angemessene Vorkehrungen, insbesondere Gebärdensprachdolmetschung, für Menschen mit Behinderungen in politischen Parteien und Gewerkschaften sicherzustellen;
  • die Ressourcen zuzuteilen, die notwendig sind, um Forschungen zu Barrieren durchzuführen, mit denen die Par􀆟zipa􀆟on und Mitwirkung von Frauen mit Behinderungen am öffentlichen Leben verhindert wird und in enger Absprache mit Frauen mit Behinderungen und den sie repräsentierenden Organisationen Kapazitätsaufbauprogramme zu fördern;
  • die barrierefreie Zugänglichkeit von Wahlmaterialien und Wahllokalen in allen Bundesländern, insbesondere in ländlichen Gebieten, und bei der Entwicklung elektronischer Wahlsysteme sicherzustellen.

Aktive Einbeziehung der Vertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen

Die UN-BRK verpflichtet alle staatlichen Ebenen zu engen Konsultationen und aktiver Einbeziehung der Vertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen bei der Entwicklung und Umsetzung von Gesetzen, Verwaltungsvorschriften oder anderen Maßnahmen, die sie betreffen.

Wir begrüßen, dass diese Anforderung seit 2014 ausdrücklich im Landesrecht verankert ist. Allerdings bestehen noch erhebliche Defizite hinsichtlich ihrer umfassenden und sachgerechten Umsetzung sowohl beim Land als auch auf kommunaler Ebene, die abgebaut werden müssen. Nicht zuletzt sind Beteiligungsverfahren so effektiv, effizient und barrierefrei zu gestalten, dass den Rechten, aber auch den Möglichkeiten und Ressourcen der Betroffenenvertretungen auf allen staatlichen Ebenen Rechnung getragen wird. Dazu gehören auch Maßnahmen zur barrierefreien Zugänglichkeit und Kommunikation wie (im Bedarfsfall) Gebärdensprach- und Schriftdolmetschung für lautsprachlich kommunizierende Ertaubte.

Beauftragte und Beiräte von und für Menschen mit Behinderungen

Beauftragte und Beiräte von und für Menschen mit Behinderungen sind auch auf kommunaler Ebene sehr wichtige Instrumente der Partizipation. Dennoch verzichten viele Gemeinden nach wie vor darauf, sie einzurichten. Noch seltener werden die im Landesbehindertengleichstellungsgesetz (2003) vorgesehenen Satzungsregelungen zu den Beteiligungsrechten von Menschen mit Behinderung und ihren Organisationen beschlossen. Daher fordern wir, die bisherige „Kann“-Regelung zur Errichtung von Behindertenbeauftragten und Beiräten von und für Menschen mit Behinderungen in der Gemeindeordnung NRW zu einer verbindlichen Vorgabe zu machen. Darüber hinaus ist in die Gemeindeordnung auch die Verpflichtung zum Erlass von Satzungsregelungen über die Partizipation von Menschen mit Behinderungen aufzunehmen. Wir verweisen hier auf die schon bestehende verbändeübergreifende Forderung „GO NRW – politische Teilhabe stärken“.3

Gleichberechtigte Teilhabe an Wahlen

Zur Gewährleistung des Rechte auf gleichberechtigte Teilhabe an Wahlen sieht die UN-BRK die Verpflichtung vor, die Wahlverfahren, -einrichtungen und -materialien so zu gestalten, dass sie geeignet, zugänglich sowie leicht verständlich und handhabbar sind. Wir fordern, dass Wahllokale generell barrierefrei zugänglich und nutzbar sein müssen – was oft gleichbedeutend mit einem Barriereabbau bei Schulen ist. Auch müssen Informationen zu den Wahlen in Leichter Sprache kostenlos erhältlich und leicht zugänglich sein. Die Parteien sind verantwortlich für die Bereitstellung barrierefreier Informationen über ihre Wahlprogramme.

  1. Das Forderungspapier findet sich unter: https://www.mags.nrw/inklusionsbeirat-und-fachbeirate ↩︎
  2. https://landesbehindertenrat-nrw.de/aktuelles/inklusive-bildung-in-nrw-artikel-24-un-brk-umsetzen-ein-inklusives-
    bildungssystem-als-regelschulsystem-aufbauen/ ↩︎
  3. https://www.mags.nrw/system/files/media/document/file/beschluss_des_ib_vom_12.5.2023_aenderung_
    der_gemeindeordnung_nrw_bf.pdf ↩︎

6. Frauen

Die doppelte Benachteiligung von Frauen und Mädchen mit Behinderungen ist abzubauen.

Der UN-Fachausschuss äußert in seinen „Abschließenden Bemerkungen“ seine Besorgnis über das Fehlen eines umfassenden intersektionalen Ansatzes, der sicherstellen könnte, dass Themen im Zusammenhang mit Frauen und Mädchen mit Behinderungen in Gesetzgebung und Politik zu Geschlechter- und Behindertenfragen berücksichtigt werden. Es benennt explizit auch Migrantinnen sowie Mädchen mit Behinderungen.

In NRW wird der Auftrag der UN-BRK zur Bekämpfung der mehrdimensionalen Diskriminierung von Frauen und Mädchen mit Behinderungen als Thema aufgegriffen, z.B. im § 4 Absatz 1 Inklusionsgrundsätzegesetz oder im Aktionsplan NRW inklusiv 2022. Im Aktionsplan wird z.B. im explizit benannten Querschnittsthema „Frauen und Mädchen mit Behinderungen“ u.a. formuliert, dass „deren Belange systematisch Berücksichtigung“ finden und dabei „Bezug auf verschiedene Lebenslagen und Lebensphasen genommen“ wird.

Trotz solcher Festlegungen fehlen in allen Bereichen der Landespolitik die geforderten systematischen und intersektionalen Ansätze, ob in Schule, Ausbildung, Arbeit, Gesundheitsversorgung, Migration oder auch im Gewaltschutz. Verfügbare Daten zu vielen unterschiedlichen Bereichen wie Ausbildung, Einkommen, Gesundheitsversorgung oder Gewaltbetroffenheit belegen allerdings weiter für Frauen und Mädchen das negative Zusammenwirken der Faktoren Geschlecht und Beeinträchtigung im Lebensverlauf und die daraus resultierenden geringeren Chancen, ein selbstbestimmtes und sicheres Leben zu führen.

Wir fordern:

  • In allen Bereichen und Politikfeldern, die für Menschen mit Behinderungen wichtig sind, den Abbau von Benachteiligung nach Geschlecht als Ziel zu berücksichtigen.
  • Das für die ressortübergreifende Koordinierung innerhalb der Landesregierung entsprechend den Vorgaben der „Abschließenden Bemerkung“ ein nach Geschlecht differenzierter und intersektionaler Ansatz entwickelt und gewährleistet wird.
  • Zu allen Maßnahmen, die im Aktionsplan NRW inklusiv 2022 dem Querschnittsthema Frauen mit Behinderungen zugeordnet wurden, konkrete Aktivitäten zum Abbau der multiplen Diskriminierung von Frauen und Mädchen mit Behinderung bzw. zur Förderung ihrer Gleichstellung definiert und umgesetzt werden.

7. Gewaltschutz

Das Recht behinderter Menschen auf ein Leben ohne Gewalt sowie auf Zugang zur Hilfe nach Gewalt ist durch wirkungsvolle Maßnahmen, besonders für Frauen und Mädchen, sowie für Menschen in Institutionen, zu gewährleisten. Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zeigte sich in den „Abschließenden Bemerkungen“ des Staatenprüfverfahrens zutiefst besorgt über:

  • die hohen Raten aller Formen von Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen, insbesondere Frauen und Mädchen mit Behinderungen, und das Fehlen einer umfassenden und wirksamen Strategie zur Prävention von und Reaktion auf Gewalt, um Schutz vor Gewalt in allen öffentlichen und privaten Bereichen zu gewährleisten;
  • den Mangel an Zuständigkeit des Gesetzes zum Schutz vor Gewalt, um alle Formen von Gewalt zu erfassen, die Menschen mit Behinderungen in allen institutionellen Einrichtungen erfahren, insbesondere für Frauen und Mädchen mit Behinderungen.

Der Ausschuss fordert die Regierung auf, in Zusammenarbeit mit Behindertenorganisationen, besonders solchen, die Frauen und Mädchen vertreten:

  • eine umfangreiche Strategie zu entwickeln, um Gewalt zu verhindern und darauf zu reagieren. Diese Strategie soll den Bedürfnissen von verschiedenen Geschlechtern und Altersgruppen gerecht werden, im Einklang mit internationalen Standards, wie der Istanbuler Konvention, stehen. Sie soll auch sicherstellen, dass Schutzräume, Notunterkünfte und Beratungsstellen für alle zugänglich und weit verfügbar sind und dass es unabhängige Stellen gibt, bei denen Betroffene Beschwerden einreichen und Hilfe suchen können.
  • Gesetze und Richtlinien zu überarbeiten, um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen in allen Einrichtungen vor Gewalt und Missbrauch geschützt sind, besonders Frauen und Mädchen mit Behinderungen.

Mögen dies im ersten Moment Forderungen an die Bundesregierung sein, so gelten sie doch genauso auch für die Landesregierung.

Zum erhöhten Risiko von Frauen und Mädchen mit Behinderungen, häusliche oder sexualisierte Gewalt zu erleben, bietet die „Bielefelder Studie“ seit 2013 auch quantitative Daten, zugleich mit alarmierenden Befunden des noch höheren Gewaltrisikos in Einrichtungen. Diese Befunde einer erhöhten Gewaltbetroffenheit wurden seitdem wiederholt bestätigt, verknüpft mit vielen Lösungsansätzen, von einer Landtagsanhörung 2014 über den Teilhabebericht NRW 2020 bis zur Bedarfsanalyse des Hilfeangebotes in NRW von 2021. Dennoch fehlt es in NRW an einer einheitlichen Strategie zum Gewaltschutz. Die bisherigen Maßnahmen der verschiedenen zuständigen Ministerien sind kaum miteinander verbunden. Für Frauen mit Behinderungen oder Pflegebedarf besteht weiter eine Schutzlücke, mit dramatischen Folgen.

Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen erlangte in NRW als Problem erst durch den Wallraff-Bericht von 2017 und die Vorfälle um den Wittekindshof von 2021 landespolitische Aufmerksamkeit. Seit Herbst 2022 engagieren wir uns als Organisationen und Verbände im Rahmen der Landesinitiative Gewaltschutz für die Umsetzung der Empfehlungen der Experten-Kommission. Wir sehen uns jedoch mit unklaren Verantwortlichkeiten und mangelnden Ressourcen konfrontiert. Trotz aller Fortschritte nach Aktenlage, von Gewaltschutzkonzepten bis zur Dokumentation freiheitseinschränkender Maßnahmen, erkennen wir kaum faktische Fortschritte bei der Umsetzung der Empfehlungen der Expertenkommission und im Schutz vor Gewalt.

Wir fordern:

  • eine gemeinsame, mit ausreichenden Mitteln unterstützte Strategie der Landesregierung gegen Gewalt an Menschen mit Behinderungen. Diese Strategie sollte unter Einbeziehung aller relevanten Ministerien, wie dem Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS), dem Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integra􀆟on (MKJFGFI), dem Schulministerium und dem Justizministerium, entwickelt werden.
  • den Einsatz der Landesregierung für eine Anpassung des Gewaltschutzgesetzes auf Bundesebene
  • klare und messbare Ziele für die Landesinitiative Gewaltschutz bezüglich der Umsetzung der Empfehlungen der Expertenkommission in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode, unterstützt durch ausreichende finanzielle Mittel.

8. Pflege

Pflegebedürftige Menschen zählen zu den behinderten Menschen; die UN-BRK gilt uneingeschränkt auch für sie. Pflege ist eine Beziehung zwischen Pflegenden und Gepflegten. Damit gute Pflege gelingen kann, müssen die Rahmenbedingungen für beide Seiten stimmen. In aller Regel wollen pflegebedürftige Menschen zu Hause statt im Heim leben.

Viele dringend notwendige Verbesserungen in der Pflege sind nur im Zusammenspiel von Bund, Land, Kommunen, Vertretern der Pflegebedürftigen und Pflegendenden, sowie den Pflegekassen und Pflegeanbietern erreichbar. Die landespolitischen Möglichkeiten, ein solches Zusammenspiel zu befördern, werden aus unserer Sicht bisher jedoch bei weitem nicht ausreichend genutzt.

Vorhaltung bedarfsgerechter und quartiersorientierter Versorgungsstrukturen

Die Frage, welche (vollstationären, teilstationären, ambulanten) Angebote es in welchem Verhältnis vor Ort gibt, entscheidet sich bislang eher nach Rentabilitätskriterien als nach Bedarfen und Bedürfnissen. Aufgrund fehlender bzw. unzureichender Angebote an professioneller Unterstützung in der Pflegetragen pflegende Angehörige die häusliche Versorgung von vier Fünfteln der pflegebedürftigen Menschen in NRW, in gut 70 Prozent der Fälle ganz ohne professionelle Unterstützung. Viele pflegende Angehörige sind durch ihre Pflegearbeit hochgradig belastet.

Das Land NRW muss seine Verantwortung für die Vorhaltung bedarfsgerechter Versorgungsstrukturen wieder verstärkt wahrnehmen, um insbesondere auf die Schließung von Kapazitätslücken hinzuwirken. Dazu gehört auch der Einsatz gezielter förderpolitischer Instrumente im Rahmen des Alten- und Pflegegesetzes NRW. Das Wohn- und Teilhabegesetz (WTG) NRW als Ordnungsrecht der Pflege muss die Rechte Pflegebedürftiger umfassend schützen, nicht zuletzt mittels wirksamer jährlicher Kontrollen durch die zuständigen Behörden. Dazu sind die WTG Behörden (Heimaufsicht) landesweit personell so auszustatten, dass sie ihren Aufgaben umfassend nachkommen können. Auch muss der Landesausschuss Alter und Pflege in seiner Bedeutung durch die Landesregierung ernster genommen werden.

Wir brauchen quartiersorientierte Versorgungsstrukturen mit vorrangiger Stärkung professionell gestützter häuslicher Versorgung („ambulant vor stationär“). Die Leistungsansprüche der Versicherten für ambulante Pflegedienste, Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege sowie Betreuungsund Entlastungsleistungen müssen aber flächendeckend und verlässlich einlösbar sein. Der Strukturwandel von Großeinrichtungen zu kleineren, dezentralen Einheiten in den Quartieren ist konsequent voranzutreiben.

Pflegeversicherung als Vollversicherung

Auch für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen in NRW führt die jetzige „Teilkasko“-Pflegeversicherung mit ihren begrenzten Zuschüssen zu den Pflegekosten verstärkt zu hohen privat zu tragenden Kostenanteilen, die vor allem bei stationärer Versorgung das vorhandene Einkommen meist überfordern und ggf. ein Vermögen rasch aufzehren, so dass vielfach Sozialhilfebedürftigkeit eintritt. Damit Pflegebedürftigkeit nicht länger ein Armutsrisiko ist, muss die Pflegeversicherung zu einer Vollversicherung nach dem Beispiel der Gesetzlichen Krankenversicherung fortentwickelt werden. Hierfür muss sich die Landesregierung bundespolitisch stark machen.

Pflegeberatung

Die Organisation eines tragfähigen häuslichen Pflegearrangements stößt nicht selten auf die Schwierigkeit, dass dazu eine Mehrzahl von Unterstützungsangeboten bedarfsgerecht kombiniert und finanziert werden muss. Wir brauchen eine quartiersnah verfügbare und überschaubare Infrastruktur unabhängiger Pflegeberatung ohne einseitige Bindung an Kostenträger oder Leistungserbringer. Die Beratung einschließlich Fall-Management muss stets Kostenträgerübergreifend erfolgen. Nicht nur in diesem Zusammenhang müssen auch die Kommunen ihrer Sicherstellungsverantwortung für Unterstützungsangebote für pflegende Angehörige sowie für komplementäre ambulante Dienste nach dem Alten- und Pflegegesetz NRW endlich umfassend nachkommen.

Mangel an Pflegefachkräften beseitigen

Der Mangel an Pflegefachkräften betrifft ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen sowie Krankenhäuser. Solidarische Strategien für gleichermaßen gute Arbeits- und Entgeltbedingungen müssen einen Abwerbe-Wettbewerb zwischen den drei Sektoren verhindern. Die Kapazitäten der Pflegeausbildung sind zu erhöhen, nicht zuletzt durch eine verstärkte Ausbildung qualifizierter Pflege-Lehrkräfte.

Schulung der Pflegefachkräfte in behinderungsspezifischen Belangen

In der Ausbildung und Fortbildung müssen der Umgang mit und die Bedarfe der Menschen mit Behinderungen mehr geschult werden.

Vorausschauende Pandemieplanung

Eine vorausschauende Pandemieplanung muss verhindern, dass Pflegeheime nochmals zu Höchstrisikoorten werden, die Pflegebedürftige in menschlich kaum erträgliche Isolation zwingen.

9. Persönliches Budget

Wir fordern, dass mehr Menschen mit Behinderungen über die Möglichkeiten der Erbringung von Leistungen der Eingliederungshilfe durch das persönliche Budget informiert und bei der Umsetzung dieses Wunsches unterstützt werden, vgl. § 106 SGB IX. Das persönliche Budget ermöglicht es den Leistungsberechtigten, in eigener Verantwortung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen. Dies bedeutet aus unserer Sicht gerade auch, dass die betroffenen Personen sowohl bei der Beantragung wie auch später bei der konkreten Anwendung des Budgets Unterstützung auch in Form von Assistenzleistungen erhalten. Hier ist das Land im Rahmen seiner Möglichkeit gefordert, sich für die Ausweitung des persönlichen Budgets einzusetzen.

10. Freizeitbereich

Zur vollständigen Teilhabe am sozialen Leben gehört gerade auch der Freizeitbereich. Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe. Sie müssen die Möglichkeit haben, an Veranstaltungen und Angeboten ihren Wünschen und Interessen gemäß partizipieren zu können. Hierbei bedarf es unserer Ansicht zum einem die Gewährung entsprechender Assistenz und Hilfsmittel zur selbstbestimmten Teilnahme und Mitwirkungen.

In diesem Kontext fordern wir eine nachhaltige und stabile Finanzierung von Unterstützungsleistungen für die Freizeitgestaltung sowie die Förderung des Ehrenamtes als eine wesentliche Säule der Unterstützung und der Begegnung von Menschen mit und ohne Behinderungen. Zum anderen fordern wir eine stärkere Sozialraumorientierung seitens der Leistungserbringer und Leistungsträger der Eingliederungshilfe, hin zur mehr Kooperation mit regionalen / kommunalen Anbietern von Angeboten der Freizeit und Kultur.

11. Kinder und Jugend

Das Land NRW ist aus unserer Sicht im Bereich von Kindheit und Jugend gefordert, mit klaren gesetzlichen Regelungen den Forderungen der UN-BRK nachzukommen und so die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen sicherzustellen.

Wir fordern daher in Abänderung von § 1 Abs. 2 AG SGB IX NRW eine altersunabhängige Zuständigkeit auch für ambulante Eingliederungshilfen zugunsten junger Menschen.

Außerdem sehen wir das Land in der Pflicht, den Bedarf bis zur Reform des SGB VIII zu befriedigen. Wir fragen uns, ob die 186 Jugendämter des Landes ausreichend auf die große, inklusive Lösung des SGB VIII ab dem 01. Januar 2028 vorbereitet sind und ob sie ab dann auch in der Lage sein werden, den Kindern mit Behinderung die bedarfsgerechte Unterstützung zukommen zu lassen. Dies wäre die Mindestvoraussetzung, um der Forderung der UN-BRK nach der selbstbestimmten und gleichberechtigten Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen am gemeinschaftlichen Leben nachzukommen.

Wir fordern das Land gem. § 78a Abs. 2 SGB VIII auf, für einen landeseinheitlichen Umgang mit Ansprüchen auf ambulante Eingliederungshilfen nach § 35a SGB VIII zu sorgen, rechtzeitig die Implementierung des inklusiven SGB VIII und die Zusammenführung zweier komplexer Systeme zu begleiten und zu steuern sowie landeseinheitlich Verfahrenslotsen nach §10 SGB VIII zu etablieren.

12. Schlussbemerkung

Unsere Forderungen müssen, zusammen mit den Ergebnissen der Staatenprüfung durch den UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, als Grundlage für die zukünftige Inklusionspolitik in NRW gesehen und unter enger Einbindung von Menschen mit Behinderungen umgesetzt werden. Es besteht aus unserer Sicht dringender Handlungsbedarf, wenn bis zur nächsten Staatenprüfung im März 2031 echte strukturelle behindertenpolitische Veränderungen erreicht werden sollen.

Düsseldorf, den 25.04.2024

Landesorganisationen der Selbsthilfe fordern transparente Verfahren für Eingliederungshilfen junger Menschen mit Behinderungen

Vorbemerkung:

Entsprechend dem Auftrag des SGB IX sind in NRW inzwischen im Landesrahmenvertrag die wesentlichen Vertragsgrundlagen für Leistungen der Eingliederungshilfe getroffen worden. Vertragspartner dieser Vereinbarungen waren und sind gemäß § 131 SGB IX auf der einen Seite die „Träger der Eingliederungshilfe“ (Landschaftsverbände, Landkreise und kreisfreie Städte) und auf der anderen Seite die „Vereinigungen der Leistungserbringer“ (i.W. die Freie Wohlfahrt). Die dritte Bank mit beratender Stimme ist die organisierte Selbsthilfe als „Interessenvertretungen der Menschen mit Behinderungen“. Die in diesem Vertragswerk verabschiedeten Rahmenbedingungen und Leistungsbeschreibungen werden nach Beratung in Arbeitsgruppen in der Gemeinsamen Kommission kontinuierlich konkretisiert und fortgeschrieben.

Im Rahmen einer Bewertung des bisherigen Verlaufs der Verhandlungen müssen wir als Landesverbände der Selbsthilfe feststellen, dass für junge Menschen mit Behinderungen die erzielten Vereinbarungen zum Teil wegen komplizierter Zuständigkeits- und Verfahrensregeln auf Landesebene leider nicht zu der vom Gesetzgeber gewünschten Einheitlichkeit und Transparenz beigetragen haben.

Dies betrifft insbesondere die ambulanten Eingliederungshilfen (s. dazu die Rahmenleistungsbeschreibungen zu A.2.6-8):

  • Schulbegleitungen und Teilhabe an Bildung als Eingliederungshilfen nach (§ 112, 75 SGB IX),
  • Assistenz für Kinder und Jugendliche im familiären Kontext (§§ 113, 79 SGB IX),
  • Autismusspezifische Fachleistungen (§§ 112, 113, 75, 79 SGB IX) bei Autismus-Spektrum-Störungen.

1. Zur Regelung des § 1 AG-SGB IX NRW:

Die verwirrenden Zuständigkeitsregelungen finden sich zum einen in den in § 1 AG-SGB IX NRW vorgegebenen und wenig nachvollziehbaren Wechseln der Leistungsträgerschaft bei ambulanten Eingliederungshilfen für junge Menschen.

So liegt die Trägerschaft solcher Leistungen im Vorschulalter zunächst wie bei grundsätzlich allen Eingliederungshilfen bei den Landschaftsverbänden, wechselt mit der Einschulung zu den Kreisen und kreisfreien Städten über und nach dem Schulbesuch wieder zurück zu den Landschaftsverbänden. Dies bedeutet je nach Lebensalter unterschiedliche Zuständigkeiten vor, während und nach dem Schulbesuch, was für die Betroffenen und ihre Familien, für die beteiligten Leistungsträger wie auch für die Leistungserbringer mit Intransparenz, erheblicher Bürokratie, Verunsicherung, Kosten- und Zeitaufwand sowie Schnittstellenproblemen verbunden ist. Die Leistungserbringer, oft Organisationen der Selbsthilfe, sind dadurch mit einer Vielzahl von Vertragspartnern konfrontiert und müssen für die gleiche Leistung unterschiedlichste Verhandlungen führen.

Wir fordern daher vom Landesgesetzgeber in Abänderung von § 1 Abs. 2 auch für ambulante Eingliederungshilfen zugunsten junger Menschen eine altersunabhängige Zuständigkeit nach § 1 Abs. 1 AG-SGB IX NRW.

2. Zum Umgang mit Ansprüchen nach § 35a SGB VIII:

Eine weitere und zusätzliche Problematik ergibt sich für junge Menschen bei seelischen Behinderungen aus dem zunehmend uneinheitlichen Umgang der Jugendämter in NRW mit ambulanten Ansprüchen auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII.

Zwar werden in der Regel für Ansprüche auf ambulante Eingliederungshilfen nach § 35a SGB IX von den meisten Jugendämtern ggf. nach § 123 ff SGB IX getroffene Vereinbarungen zugrunde gelegt, wenn es sich um Leistungen handelt, die den gleichen Adressatenkreis betreffen. Dies entspricht dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers, indem er in § 35a SGB VIII ausdrücklich auf die Eingliederungshilfe nach dem SGB IX verweist. Zunehmend gehen Jugendämter aber dazu über, grundsätzlich eigene Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen verhandeln zu wollen, wenn für junge Menschen entsprechend dem Wunsch- und Wahlrecht nach § 5 SGB VIII ambulante Eingliederungshilfen beantragt werden.

Dies ist für alle Beteiligten mit Zeitaufwand, vermeidbarer Bürokratie und fehlender Transparenz verbunden und insbesondere dann nicht nachvollziehbar, wenn der Leistungserbringer hierfür eine Leistungs- und Vergütungsvereinbarung nach dem SGB IX getroffen hat, der die gleiche Fachkonzeption und Leistungsbeschreibung zugrunde liegt, wie dies bei Schulbegleitung, Assistenz im familiären Kontext und autismusspezifischer Fachleistung der Fall ist.

  • Für solche Eingliederungshilfen auch seitens der Jugendämter grundsätzlich die ggf. nach § 123 SGB IX getroffenen Vereinbarungen anzuwenden, ist u.a. aus folgenden Gründen sinnvoll:
  • Für diese ambulanten Eingliederungshilfen finden in NRW die für Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen geltenden Vorschriften der §§ 78b bis 78g gem. § 78a SGB VIII keine Anwendung.
  • Für gleiche Leistungen bei gleicher Fachkonzeption und Leistungsbeschreibung unterschiedliche Vereinbarungen und Entgelte zu vereinbaren, widerspricht gegenüber den Leistungsberechtigten dem Gleichbehandlungsgrundsatz und verhindert schnelle und unbürokratische Hilfe.
  • Dem Willen des Gesetzgebers nach möglichst einheitlichen Hilfen für Menschen mit Behinderungen widerspricht es, wenn es für die Jugendämter in NRW kein einheitliches, vorhersehbares und transparentes Verfahren für diese ambulanten Eingliederungshilfen gibt. Gemäß § 78a Abs.2 wäre dies auf Landesebene möglich.
  • Die Träger der Jugendhilfe (Kommunale Jugendämter und Landesjugendämter) haben im Interesse der Einheitlichkeit landesweit nur eine Handreichung für Hilfen zur Erziehung, nicht aber für Eingliederungshilfen erarbeitet.

Wir fordern daher einen landeseinheitlichen Umgang mit Ansprüchen auf ambulante Eingliederungshilfen nach § 35a SGB VIII, was entweder durch die Landschaftsverbände und kommunalen Spitzenverbände mit einheitlichen, am SGB IX ausgerichteten Vorgaben erreicht werden könnte oder durch den Landesgesetzgeber gem. § 78a Abs. 2 SGB VIII.

Da inzwischen viele junge Menschen und ihre Familien von diesen Unsicherheiten betroffen sind und ihnen aktuell zunehmend schnelle Hilfen vorenthalten bleiben, bitten wir um eine zügige Befassung der

hier angesprochenen Themen.

Deshalb möchten wir auch ausdrücklich bitten, damit nicht auf die vom Gesetzgeber geplante Reform des SGB VIII zu warten, zumal die von uns vorgeschlagenen Änderungen bzw. Klarstellungen weder dem aktuellen noch den geplanten Änderungen entgegen stehen, sondern sogar schon Schritte in Richtung der angestrebten „integrierten Lösung“ sein können und nach unserer Überzeugung jetzt und in Zukunft mit Klarheit und unbürokratischen Abläufen den jungen Menschen, den Leistungsanbietern und auch den beteiligten Jugendämtern zugute kämen. Dies ist schon heute dringend geboten!

Düsseldorf, im Januar 2024

GO NRW: Bündnis fordert Änderung der Gemeindeordnung

Eine starke Demokratie braucht vielfältige Teilhabe. Menschen mit Behinderungen, jungen und älteren Menschen fehlen vielerorts die Chancen auf politische Mitwirkung. Das Bündnis „GO NRW – politische Teilhabe stärken“ möchte das ändern und richtet sich mit konkreten Forderungen an die Landes- und Kommunalpolitik.

„Weniger als die Hälfte der nordrhein-westfälischen Kommunen hat Formen der Interessenvertretung im Sinne des § 27a der Gemeindeordnung wie Beiräte für Menschen mit Behinderungen, Seniorenvertretungen oder Jugendräte. Dabei stärken diese mit ihrer Expertise nicht nur Politik und Verwaltung, sondern auch das demokratische Miteinander”, heißt es von dem Bündnis, zu dem sich die LAG Selbsthilfe NRW, der Landesbehindertenrat NRW, der Landesjugendring NRW, die Landesseniorenvertretung NRW, der Verein Politisch Selbstbestimmt Leben NRW, der Sozialverband Deutschland NRW und der Sozialverband VdK NRW zusammengeschlossen haben. Kooperationspartner sind die Kompetenzzentren Selbstbestimmt Leben (KSL) NRW. Damit alle Menschen umfassend, gleichberechtigt, selbstbestimmt und wirksam an der Kommunalpolitik teilhaben können, fordert das Bündnis vier Maßnahmen von der Landes- und Kommunalpolitik ein. Bei der konkreten Umsetzung sehen sich die Beteiligten mit ihrem breiten Fachwissen als Unterstützer:

  • Änderung der Gemeindeordnung
    Bisher konnten Kommunen freiwillig entscheiden, Vertretungen zu bilden oder Beauftragte zu bestellen, die sich für die Belange von Menschen mit Behinderungen, jungen und älteren Menschen einsetzen. Das Bündnis fordert, dass Kommunen dazu verpflichtet werden. Kurzum: Wenn Menschen sich engagieren wollen, dann muss dies im Sinne der Demokratie und für eine inklusivere Gesellschaft ermöglicht werden.
  • Bereitstellung von Mustersatzungen und Empfehlungen
    Die Landesregierung soll für die Kommunen Mustersatzungen und Empfehlungen für effektive Teilhabestrukturen bereitstellen.
  • Sicherstellung der Barrierefreiheit
    In der Kommunalpolitik muss bauliche, kommunikative und digitale Barrierefreiheit vollumfänglich sichergestellt werden. Ansonsten bleiben viele Menschen von der Politik ausgeschlossen.
  • Fortbildung und Empowerment ermöglichen
    Beschäftigte der Kommunen sollen die Möglichkeit bekommen, sich zum Thema inklusive Kommunalpolitik weiterzubilden. Menschen, die sich vor Ort einbringen möchten, sollten Angebote zum politischen Empowerment erhalten.

[Die vollständig ausformulierten Forderungen finden sich im beigefügten Bündnispapier]

Beiräte und Beauftragte bündeln die Belange von Menschen, die bisher in der Politik unterrepräsentiert sind. Für junge Menschen sind hier einerseits direkte Beteiligungsprojekte oder Jugendräte relevante Orte, um sich Gehör zu verschaffen und andererseits anwaltschaftliche Beteiligungsformen wie Jugendverbände und Jugendringe. Bei älteren Menschen und Menschen mit Behinderungen empfehlen sich Seniorenvertretungen beziehungsweise Inklusionsbeiräte als Selbstvertretungsgremien oder entsprechende Beauftragte. Sie alle stärken Politik und Verwaltung vor Ort, indem sie ihre Expertise einbringen. Bei Planungen weisen sie frühzeitig auf Verbesserungen hin, um somit spätere kostenintensive Korrekturen vermeiden.

Um eine verpflichtende Einrichtung von Interessenvertretungen zu erreichen, führt das Bündnis Gespräche mit Vertreter*innen der nordrhein-westfälischen Landespolitik, mit kommunalen Spitzenverbänden und weiteren Akteuren und plant verschiedene Aktivitäten.

Bündnispapier „GO NRW – politische Teilhabe stärken“ 

Präambel 
Menschen mit Behinderungen, junge und ältere Menschen sollen als Expert*innen in eigener Sache umfassend, gleichberechtigt, selbstbestimmt und wirksam an der Kommunalpolitik teilhaben. Dieser Anspruch ergibt sich aus bestehenden Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen und dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes. Dafür setzt sich das Bündnis „GO NRW – politische Teilhabe stärken“ aus verschiedenen Interessenvertretungen ein. Politische Teilhabe in den Kreisen, Städten und Gemeinden Nordrhein-Westfalens muss durch partizipative Strukturen ermöglicht, durch eine teilhabeorientierte Kultur gewollt und durch politische Aktivität mit Leben gefüllt werden. Weniger als die Hälfte11 der nordrhein-westfälischen Kommunen haben eine Form der Interessenvertretung im Sinne des § 27a GO NRW. Um das zu ändern, fordert das Bündnis vier Maßnahmen von der Landes- und Kommunalpolitik ein. 

1. Änderung der Gemeindeordnung 
Die Kann-Regel in § 27a GO NRW soll zu einer Muss-Regel werden. Kommunen würden damit verpflichtet, zur Wahrung der Belange von Menschen mit Behinderungen, jungen und älteren Menschen Vertretungen zu bilden oder Beauftragte zu bestellen. Gesetzliche Vorgaben zur Jugendhilfeplanung sind zu berücksichtigen. 

2. Bereitstellung von Mustersatzungen und Empfehlungen 
Die Landesregierung soll unter Einbeziehung des Bündnisses Mustersatzungen und Empfehlungen als Orientierungshilfe bereitstellen. Darin sind unter anderem effektive Beteiligungsrechte, der Grundsatz der Parteineutralität von Beiratsmitgliedern beziehungsweise Beauftragten, die Sicherstellung von Barrierefreiheit von politischer Teilhabe sowie die Bereitstellung einer begleitenden Verwaltungsstruktur zu regeln. Ein beteiligungsorientiertes Demokratieverständnis, aus dem die Vorteile politischer Teilhabe für Politik, Verwaltung, Öffentlichkeit und Engagierte hervorgehen, ist zu definieren. 

3. Sicherstellung der Barrierefreiheit 
Damit Menschen mit Behinderungen politisch teilhaben können, muss bauliche, kommunikative und digitale Barrierefreiheit vollumfänglich in der Kommunalpolitik sichergestellt werden. Bedarfe vor jeder Veranstaltung sind deshalb abzufragen und Hilfen wie persönliche Assistenz, Übersetzungen in Leichte Sprache, Begleitung durch eine Verstehensassistenz bei Lernschwierigkeiten, Gebärdensprachverdolmetschung für Gehörlose, technische Hörhilfen für Schwerhörige, zusätzlicher Kostenersatz, z. B. für besondere Fahrdienste, Übertragungen der Sitzungsmaterialien in barrierefreie Dokumente, bereit zu stellen. 

4. Fortbildung und Empowerment ermöglichen
Zur Förderung einer wirksamen und konstruktiven politischen Arbeit sind Seminarangebote für Verwaltungsmitarbeitende und für Engagierte erforderlich. Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung zum Thema der politischen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, jungen und älteren Menschen sind notwendig. Für Interessierte und Engagierte der Selbst- und Interessensvertretung braucht es Empowerment, um für das politische Engagement zu motivieren und um über Strukturen und Handlungschancen der Kommunalpolitik zu informieren. 

  1. Laut Teilhabebericht Nordrhein-Westfalen 2020 haben 48 % der NRW-Kommunen keine Form der Interessenvertretung von Menschen mit Behinderung. Nach Angaben des Kinder- und Jugendrats NRW bestehen in 23 % der NRW Kommunen Formen wie ein Kinder- und Jugendrat. Die Landesseniorenvertretung gibt an, dass rund 43 % der NRW-Kommunen eine Seniorenvertretung haben.   ↩︎

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