Stellungnahme der Selbsthilfe zur Situation von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf in Kindertageseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen

Die Selbsthilfe machte wiederholt auf die Problematik der unzureichenden teilhabeorientierten Betreuung und Bildung von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf[1] insbesondere in inklusiven Kindertageseinrichtungen (KiTas) aufmerksam[2]. Im Rahmen dieser Stellungnahme konkretisieren wir die von uns wahrgenommen Hindernisse und Benachteiligungen für Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf in NRW und sprechen uns für Handlungsbedarfe aus. Unsere Ausführungen und Forderungen tätigen wir advokatisch für Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf und ihre Familien. Wir beziehen uns auf Berichte und Expertisen von betroffenen Angehörigen, inklusiv tätigen Regelkindertageseinrichtungen, Familienberatungs- und Inklusionszentren, heilpädagogischen Kindertageseinrichtungen sowie einschlägige Quellen.


GRUNDSÄTZLICHES

„Familien sind Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Unseren Kindern gehört die Zukunft. Sie sind im Fokus unserer Politik und unseres Handelns.“ [3]

Inklusive Elementarbildung in Kindertageseinrichtungen legt einen der ersten Grundsteine für ein gemeinsames Lernen und Erleben in unserer Gesellschaft und kann Kindern mit Behinderung eine gleichberechtigte Teilhabe ab frühen Lebensjahren gewährleisten.   

Wir begrüßen daher die Zielsetzung der KiBiZ-Reform eine inklusive Kita – Landschaft in NRW zu fördern. Wir stellen in der aktuellen Situation jedoch fest, dass die Betreuung von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf auch für erfahrene und jahrelang inklusiv arbeitende Kitas herausfordernd ist. Wir nehmen eine strukturelle Benachteiligung der Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf wahr. Wir beobachten eine Entwicklung ungleicher Lebensverhältnisse zwischen Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf und ihren Familien und Kindern ohne Behinderung. Die Selbsthilfe sieht deshalb das Ziel der Landesregierung, die größtmögliche Inklusion gerade auch von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf in Gefahr.

Diese Einschätzung ergibt sich ausfolgenden Aspekten:

  1. Wir sehen eine Versorgung mit Kita-Plätzen für Kinder mit hohen Unterstützungsbedarf in NRW nicht gewährleistet. Statt einer besonderen Berücksichtigung der Bedürfnisse von Kindern mit oder mit drohenden Behinderungen bei der gewünschten wohnortnahen Betreuung (§ 3 Abs. 2 KiBiz), zeichnen sich immer mehr Absagen seitens Kita-Regeleinrichtungen von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf und eine erhöhte Anfrage bei heilpädagogischen Einrichtungen ab.[4]  
  • In NRW gibt es aktuell keine rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen der Kindertagesbetreuung, die es inklusiv arbeitenden Kitas ermöglichen, ein nachhaltiges und bedarfsorientiertes Kita-Setting für Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf aufzubauen und zu erhalten.[5]
  • Der Aufbau und die dauerhafte, qualitative Umsetzung eines inklusiven Settings und der teilhabeorientierten Betreuung für Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf hängt aktuell allein von Haltung, Motivation und Qualifikation der jeweiligen Kita-Träger und dort tätigen (Fach-)Personen ab. Es fehlen Anreize für Kita-Träger Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf aufzunehmen[6].
  • Der Fach- und Arbeitskräftemangel wirkt sich besonders negativ auf die Betreuung und die Förderung der sozialen Teilhabe von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf in inklusiven und heilpädagogischen Kitas sowie auf die Lebenssituation der Familien aus.[7]
  • Trotz einheitlicher Gesetzesgrundlage erfolgt die Durchführung des Teilhabe-/Gesamtplanverfahrens uneinheitlich und weist qualitative Unterschiede auf.
    Statt einer personenorientierten, interdisziplinären Vorgehensweise beobachten wir vermehrt eine Bedarfsermittlung ohne persönlichen Kontakt zu Kind und Eltern sowie eine intransparente Bewilligungspraxis.[8]
  • Die Bewilligung der individuellen Leistungen im Elementarbereich weisen eine Tendenz zu Förderung, Therapie und eine Fokussierung auf den Befähigungsansatz auf.[9] Dieser Ansatz kann bei Kindern mit hohen Unterstützungsbedarf exkludierend und nachteilig in Bezug auf die Förderung von sozialer Teilhabe und Bildung in Kitas wirken.

Die benannten strukturell bedingten Aspekte treffen auf Kinder und Eltern, die in ihrem Alltag bereits von Mehrbelastungen betroffen sind, zu[10]. Sie führen in der aktuellen Situation zu weiteren Benachteiligungen von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf und ihren Familien. Um Exklusionstendenzen bei den betroffenen Familien entgegenzuwirken und das Recht auf Teilhabe und Bildung bei Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf zu gewährleisten, fordern wir ein aktives Vorgehen aller beteiligten Akteure.

Für das Vorgehen formulieren wir folgende übergeordnete Handlungserfordernisse, die wir unter „Im Einzelnen“ herleiten und daraufhin konkrete kurz- und mittelfristig ansetzende Maßnahmen benennen.

  • Die Einleitung von gemeinsamen tragbaren Lösungen muss zum aktuellen Zeitpunkt erfolgen und sich unmittelbar entlastend auf die Situation von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf auswirken.
  • Es bedarf Regelungen für die spezifische Situation von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf für den Übergangszeitraum bis zur Implementierung der inklusiven Lösung sowie der Verhandlung der Basisleistung II. Sie müssen formuliert und klar an Eltern und Kita-Träger kommuniziert werden.
  • Der Bildungs- und Erziehungsauftrag nach § 15 KiBiZ und die soziale Teilhabe muss auch bei Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf im Vordergrund stehen. Individuelle heilpädagogische Leistungen mit dem Ziel der sozialen Teilhabe der Kinder in der Kita dürfen nicht nachrangig von medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Leistungen behandelt werden.
  • In der aktuellen Durchführung des Teilhabe-/Gesamtplanverfahrens muss die Situation von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf besonders beachtet werden.
  • Inklusive und heilpädagogische Kitas benötigen rechtliche und finanzielle Handlungsspielräume, um die Betreuung von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf bedarfsgerecht gewährleisten zu können.
  • Eltern, Kinder und Kita-Träger benötigen transparente und verständliche Informationen und erreichbare Ansprechpersonen sowie eine Entlastung vom Bürokratieaufwand.

IM EINZELNEN

1. Notwendigkeit der spezifischen Betrachtung von Bedarfen, Lernvoraussetzungen und Lebenssituationen von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf und ihrer Familien zum Ausgleich von Benachteiligung

Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf sind in ihren Bedarfen, Lernvoraussetzungen und Entwicklungsmöglichkeit heterogen. Im Kontext der Erziehung und Betreuung im Elementarbereich gibt es jedoch gemeinsame Erfahrungen und beobachtbare Tendenzen.

  • Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf können wesentliche Fortschritte in ihrer Entwicklung erzielen. Die Behinderung der betroffenen Kinder ist in den allermeisten Fällen jedoch nicht „heilbar“ und manchmal sogar degenerativ/progressiv. Trotz Therapie, Förderung und Befähigung sind die Barrieren im Kita-Alltag so zahlreich, dass der hohe Unterstützungsbedarf und auch der Bedarf an (u.a.) heilpädagogischen Leistungen während der gesamten Kita-Zeit bestehen bleibt. Die Annahme, dass bei diesem Personenkreis im Laufe der Unterstützung Leistungen der Eingliederungshilfe entfallen, ist irreführend.
  • Die Mitteilungsarten und die Erscheinungsformen von Teilhabe und Entwicklung sind bei Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf vielschichtig. Das Erkennen und Deuten von Bedarfen, Bildungspotenzialen und Entwicklungsschritten bedarf einen dauerhaften persönlichen Bezug zu den Kindernund einen fachlichen Blick. Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf benötigen tragfähige, dauerhafte Beziehungen zu (Fach-) Personal und anderen Kindern.
  • Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf stoßen in Bezug auf die Möglichkeit einer gemeinsamen Betreuung von Kindern mit und ohne Behinderung im inklusiven Setting häufig auf Vorbehalte von Kita-Trägern, Fachkräften und Eltern.[11]
  • Viele Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf haben bereits einen umfassenden Diagnostikprozess hinter sich. Sie werden bereits von Sozialpädiatrischen Zentren (SPZs) begleitet und erhalten Leistungen der Frühförderung. Teilweise gibt es bereits Gutachten und Empfehlungen seitens der mit den Kindern arbeitenden Fachstellen für den Eintritt in die Kita. Andere Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf durchlaufen in der Kita zum ersten Mal einen Diagnostikprozess. Sie zeigen z.B. sozial-emotionaler Auffälligkeiten und/oder herausforderndem Verhalten. Die Diagnostikprozesse sind in vielen Fällen langwierig.[12] In dieser Zeit haben die Kinder keinen Anspruch auf Leistungen. In beiden Fällen ist der hohe Unterstützungsbedarf nach einer interdisziplinären Beratung mit Beteiligung der Eltern auch vor Eintritt in die Kita ersichtlich. Im Zeitraum bis zum Bewilligungsbescheid können viele Kitas die Kinder nicht aufnehmen bzw. bedarfsgerecht betreuen. Wertvolle Entwicklungszeit verstreicht. Die Belastungen in den Familien steigen.[13]
  • Familien mit Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf treffen auf zusätzliche sozioökonomische Herausforderungen im Lebensalltag. Neben erhöhtem Bürokratieaufwand, Organisation und Koordination des Alltags und täglicher Pflegearbeit haben sie weniger Möglichkeiten durch Hilfe von Privatpersonen oder Babysittern für Entlastungsmomente zu sorgen. Der Wegfall von Betreuungszeit in der Kita oder des gesamten Kita-Platzes verstärkt oft die Belastung der Familien. Eltern können teilweise keiner Berufstätigkeit nachgehen und sind finanziell belastet.[14]


Um eine bedarfsorientierte und wirksame Veränderung der Situation der Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf zu erzielen, fordern wir Strategien, Konzepte und Maßnahmen, welche die benannten Spezifika[15] der Situation von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf einbeziehen.

Mittelfristig empfehlen wir die Erwähnung von Handlungsstrategien für den benannten Personenkreis in aktuelle landesweite Steuerungsinstrumente zur Implementierung einer inklusiven Betreuungslandschaft. Dazu gehören z.B. die „Empfehlungen der Landesjugendämter Rheinland und Westfalen-Lippe zur kommunalen Jugendhilfeplanung“ oder der „Qualitätsrahmen zur Qualifizierung von Fachkräften in Kindertageseinrichtungen „Kompetenzprofil Inklusion“.


2. Strukturelle Absicherung schaffen und Barrieren bei der Umsetzung pädagogisch-konzeptioneller Ansätze im Elementarbereich verringern

Damit Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf mit anderen Kindern in Einrichtungen der Kindertagesbetreuung aufwachsen können, braucht es pädagogische Konzepte, die diese Zielgruppe in den Blick nehmen, Personal mit einer positiven Haltung zur Inklusion und Fachkenntnissen, z.B. zu den komplexen Bedarfen der Kinder[16] sowie tragfähige Rahmenbedingungen. Einen hohen Stellenwert nimmt ebenfalls die Schnittstellenarbeit mit der Frühförderung und Komplexleistung nach § 14 KiBiz sowie die Beratung durch externe Beratungsstellen wie Familienzentren nach § 42 KiBiz ein.

Fachkompetenz zu gewährleisten, ist Aufgabe der Träger der Einrichtungen. Für Kitas, die Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf betreuen, bedeutet die Schaffung eines inklusiven Settings besondere Anforderungen in der pädagogischen Arbeit, in der Bereitstellung und Qualifikation des Personals sowie der Gestaltung einer barrierefreien, bedarfsgerechten Umgebung. Die Umsetzung von inklusiven Konzepten erfolgt in der Praxis qualitativ und quantitativ heterogen.[17] Die Kita – Landschaft besteht aus heilpädagogischen Kitas, inklusiv arbeitenden Kitas mit vielfältiger Erfahrung in der Betreuung von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf bis zu Regel-Kitas ohne gelebtes inklusives Fachkonzept. Inklusive und heilpädagogische Kitas sowie Beratungsstellen für Inklusion berichten in der aktuellen Situation von erheblichen Schwierigkeiten in der Umsetzung ihrer Fachkonzepte und der allgemeinen Aufrechterhaltung der Versorgung von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf. Zur Begründung der Situation führen sie folgende Punkte auf:

  • KiBiZ-Mittel und Basisleistung I decken die finanzielle Belastung der Betreuung von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf nicht ab. Durch die noch nicht verhandelte Basisleistung II fehlt es an Orientierung und Absicherung der Kita-Träger. Es fehlen dadurch Anreize für Kita-Träger sich der Betreuung von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf anzunehmen. Änderungen im Bewilligungsverhalten der individuellen heilpädagogischen Leistungen (ihpL), wie es aktuell im Bereich des LVRs passiert, führen zur Zuspitzung der Situation. Angesichts des Ausmaßes der aktuellen Schwierigkeiten sehen wir die Gefahr, dass zukünftig immer weniger Kitas bereit sein werden, Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf aufzunehmen.
  • Kitas, die bereits ein inklusives Konzept etabliert haben, sowie heilpädagogische Kitas erleben zurzeit eine starke Nachfrage von Familien mit Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf, was bei deren Aufnahme zu einer Konzentration an Kindern mit komplexen Bedarfen führt. In Wechselwirkung mit dem Fach- und Arbeitskräftemangel sind diese Kitas und das dort tätige Personal besonders gefordert und belastet.
  • Die Basisleistung I entspricht nicht den Bedarfen der Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf und bietet nicht die notwendige Flexibilität bei der Betreuung von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf. So bedarf es in manchen Fällen einer höheren Absenkung der Gruppenstärke als in der Basisleistung I angedacht. Hinzu kommt, dass nicht alle Jugendämter bedarfsbedingte Besonderheiten wie Gruppenstärkenabsenkung, Raumkonzepte, Abweichungen von Öffnungszeiten etc. akzeptieren.
  • Wir erkennen eine Tendenz, dass dem Bedarf an pädagogischen Leistungen wie der ihpL teilweise durch die Deckung von Leistungen der Frühförderung nachgegangen wird. [18] Aus pädagogischer Sicht macht diese Schlussfolgerung nur bedingt Sinn. Frühförderung verfolgt eine klar therapeutische Zielsetzung und findet in manchen Fällen nicht in den Räumlichkeiten der Kita statt. Sie weisen zudem – jedenfalls bei der solitären Frühförderung – nur einen geringen zeitlichen Umfang (ca. 45 Minuten pro Woche) auf und sichern nur bedingt die soziale Teilnahme am Kita-Alltag.
  • Fachkräftemangel und hohe Krankheitsstände beim Personal wirken sich besonders nachteilig auf Familien mit Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf aus, da die Versorgung der Kinder in Zeiten der Notbetreuung schwieriger gewährleistet werden kann. Trotz der gesetzlichen Unzulässigkeit berichten Eltern, ihre Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf daher häufiger zu Hause lassen zu müssen.


Zur Stabilisierung und für den Ausbau einer Betreuungslandschaft, in der Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf nicht exkludiert werden, weist die Selbsthilfe auf die Notwendigkeit der Einleitung kurzfristiger Maßnahmen hin.

  • Wir fordern erreichbare Ansprechpartner*innen und Unterstützung mit Expertise für Eltern und Kita-Träger, die auf der Suche nach einem geeignetem Betreuungsplatz sind bzw. Probleme in der laufenden Betreuung und/oder Bewilligung von Leistungen haben.
  • Anpassung der Gruppenstärke, um mehr als die in Basisleistung I mögliche Absenkung, Etablierung von Poolleistungen, mehr Flexibilität bei Qualifikation und Einstellung von Personal, kindgerechte Implementierung der therapeutischen Leistungen in den Kita-Alltag, Umgestaltung von Raumkonzepten für sog. „Weglaufkinder“, Regelung der Beförderungskosten in inklusiven Kitas…: Unseres Erachtens sind Möglichkeiten der Schaffung eines bedarfsgerechten Betreuungssetting auch bei aktueller Lage möglich. Die Erhaltung von einem stabilen inklusiven Betreuungssetting bedarf individueller Lösungen und manchmal innovative Handlungen. Wir empfehlen mehr Flexibilität für Kita-Träger in der Umsetzung ihrer Konzepte und der Verwendung von finanziellen Mitteln, wenn sie nach Bedarf, der bei ihnen zu betreuenden Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf handeln.
  • Wir fordern eine besondere Beachtung der Kita-Träger, die mit Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf arbeiten, bei der kommunalen Jugendhilfeplanung. Zumindest bis zur Etablierung der Basisleistung II.

Zum Aufbau einer vielfältigen inklusiven Betreuungslandschaft, die alle Kinder mitdenkt, fordern wir folgende mittel- und langfristige Maßnahmen:

  • Den Einbezug der Expertise von bereits inklusiv arbeitenden, aber auch heilpädagogischen Kitas mit Erfahrung in der Arbeit mit Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf sowie von Angehörigen.
  • Die Erhebung von Gelingens- und Hindernisfaktoren mit dem Schwerpunkt der sozialen Teilhabe von Kindern mit Behinderung im inklusiven Betreuungssetting.
  • Unterstützung und Beratung von Kita-Trägern bei der Erstellung und ganzheitlichen Umsetzung von Betreuungskonzepten für Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf. Dabei sollte es sich nicht nur um einmalige Beratung handeln, sondern um eine Prozessbegleitung.
  • Die Etablierung von vereinzelten landesweit tätigen Inklusionszentren mit Expertise auf dem Schwerpunkt „Inklusive Betreuung in der Kita von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf“. Die Aufgabe dieser Inklusionszentren wäre die Beratung der Kitas und (kommunalen) Kostenträger in Bezug auf spezielle Bedarfe der Kinder, Fortbildung der Fachkräfte, Organisationsentwicklung und Netzwerk- und Kooperationsarbeit.

3. Von Beratung über Bedarfsermittlung bis zur Weiterbewilligung: Die Umsetzung des Gesamt-/Teilhabeplanverfahrens bei Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf

Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf beziehen oft einen Leistungsmix von unterschiedlichen Kostenträgern. Das Teilhabe/Gesamtplanverfahren ist das gesetzliche Instrument leistungsberechtigte Personen durch den Verfahrensverlauf ab Antrag über Bedarfsermittlung bis zur bedarfsorientierten Leistung zu begleiten. Laut den uns vorliegenden Berichten kommt es in der aktuellen Praxis bei der Umsetzung des Teilhabeplanverfahrens zu Unregelmäßigkeiten und Ungereimtheiten.[19] So verzögert sich die Aushändigungen der (Folge-)Bescheide auf individuelle heilpädagogische Leistungen trotz rechtzeitiger Antragstellung bis weit in das Kita-Jahr hinein. Teilweise werden die hierfür gesetzlich vorgesehenen Fristen nach § 14 Abs. 2 SGB IX deutlich überschritten[20]. Die Bedarfsermittlung startet erst nach Aufnahme des Kindes in die Kita und Start des Kita-Jahres. Ein persönlicher Kontakt der Fallmanager*innen mit dem Kind und den Eltern vor Ort erfolgt in vielen Fällen nicht. Die Entscheidungen und Bewilligungen über den Leistungsumfang sind gegenüber Eltern und Kita-Trägern intransparent, so ist z.B. den Bescheiden nicht zu entnehmen wieso Kürzungen bei Stunden für Inklusionsassistenzen erfolgt sind. Eine Beratung über Art und Umfang eines bedarfsgerechten Leistungsmix mit relevanten Akteur*innen wie es in den Teilhabekonferenzen gesetzlich angedacht ist, erfolgt unregelmäßig und hängt von den Gegebenheiten der lokalen Netzwerk- und Koordinationsarbeit ab. In der aktuellen Situation ist eine fachgerechte ganzheitliche Bedarfsermittlung und Maßnahmenplanung für Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf mit dem Ziel der sozialen Teilhabe im Kita-Alltag nicht gewährleistet.
Durch das beschriebene Verwaltungshandelns befinden sich die Kinder und deren Familien in einer unsicheren Schwebesituation. Eltern können teilweise keiner Berufstätigkeit nachgehen bzw. müssen diese einschränken. Langjährige Kita-Assistenzen orientieren sich um, gewachsene Beziehungen der Kinder gehen verloren, Kita-Teams müssen immer wieder neues Personal einarbeiten bzw. finden kein neues.

Trotz der seitens der Leistungsträger kommunizierten Möglichkeit der Einzelfalllösung für Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf sehen wir dieses Handeln in der Praxis nicht. Dies könnte daran liegen, dass ein klarer Orientierungsrahmen, ab wann ein Kind einen erhöhten Unterstützungsbedarf hat, fehlt bzw. dieser nicht klar kommuniziert wird.

Zur unmittelbaren Entlastung der Situation bei Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf schlagen wir folgende Handlungsmaßnahmen bei der Umsetzung des Teilhabeplanverfahrens vor:

  •  Die Einhaltung der Frist nach § 14 Abs. 2 SGB IX.
  • Eine Bedarfsermittlung, vor Eintritt in die Kita, bei Kindern, bei denen ein hoher Unterstützungsbedarf bereits ersichtlich ist, muss möglich sein. Kriterien für eine vorzeitige Bedarfsermittlung können z.B. Gutachten von SPZs und Empfehlungen von Frühförderstellen und der betroffenen Kitas sein.
  • Die Bedarfsermittlung muss mit persönlichem Kontakt der Fallmanager*innen zum Kind und im Lebensumfeld des Kindes bzw. im Kita-Alltag erfolgen.
  • Über Art und Umfang von bewilligten Leistungen für Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf muss an einem „runden Tisch“ unter Beteiligung von Fachpersonen und Eltern beraten werden. Wir empfehlen die Durchführung mindestens einer Teilhabekonferenz z.B. bei Eintritt in die Kita. Bei Bedarf häufiger.
  •  Die ihpL nach der Rahmenleistungsbeschreibung[21] stellt eine zusätzliche Leistung dar, die nicht im Ausnahmefall, sondern nach dem Gesetz (BTHG) bedarfsorientiert immer dann erbracht bzw. bewilligt werden muss, wenn die Basisleistung I nicht ausreichend ist, um den individuellen Teilhabebedarf des Kindes zu decken.
  • Bei Kindern, bei denen abzusehen ist, dass der Bedarf an ihpL dauerhaft ist, sollte eine Entfristung bis zum Übergang in die Schule erfolgen. Dieses Vorgehen würde Bürokratie abbauen, alle Beteiligten entlasten und vor allem Eltern und Kita-Trägern eine Sicherheit für die Sicherstellung der Betreuung der Kinder geben.
  • Eltern müssen über alle Schritte des Teilhabeplanverfahrens informiert und entsprechend beraten werden.

Die Selbsthilfe steht allen beteiligten Akteur*innen für Rückfragen und konstruktive Gespräche zur Verfügung und beteiligt sich gerne an der Erarbeitung von Lösungsansätzen.

Düsseldorf, 08. November 2024


[1] Die Bezeichnung umfasst insbesondere folgenden Personenkreis: Kinder mit komplexer Behinderung, Kinder im Autismusspektrum, Kinder mit herausforderndem Verhalten, Kinder, die im Kita-Alltag eine umfassende Begleitung und/oder Pflege benötigen, ohne bereits gestellter Diagnose bzw. mit Verdachtsdiagnose. Ausschlaggebend ist der Unterstützungsbedarf der Kinder, der sich im Kita-Alltag ergibt

[2] Protokolle der Gemeinsamen Kommission: 27.09.24, TOP 5; 19.06.24, TOP 6;
  Protokoll der Neunten Arbeitsgemeinschaft Eingliederungshilfe 24.04.24, TOP 6 und 7

[3] ZUKUNFTSVERTRAG FUR NORDRHEIN- WESTFALEN; Koalitionsvereinbarung von CDU und GRÜNEN, S. 46

[4] siehe „im Einzelnen“ 2. und 3.

[5] siehe „im Einzelnen“ 2. und 3.

[6] siehe „im Einzelnen“ 2. und 3.

[7] Siehe „im Einzelnen“ 1. und 2.

[8] siehe „im Einzelnen“ 1. und 2.

[9] siehe „im Einzelnen“ 1. und 2.

[10] Sarimski, K. (2016): Soziale Teilhabe von Kindern mit komplexer Behinderung in der Kita. München: Ernst Reinhard. 17-27; Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2022): Forschungsbericht 613. Eltern von Kindern  mit Beeinträchtigungen – Unterstützungsbedarfe  und Hinweise auf Inklusionshürden. 52-62

[11] Kißgen, R., Austermühle J., Franke S., Limburg D. & Wöhrle, J. (2019): Rheinland-Kita-Studie: Inklusion von Kindern mit Behinderung. Abschlussbericht. 26ff; 109f; abrufbar unter: https://www.bildung.uni-siegen.de/rheinlandkitastudie/abschlussbericht_rheinlandkitastudie_final_190518.pdf  Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2022): Forschungsbericht 613. Eltern von Kindern  mit Beeinträchtigungen – Unterstützungsbedarfe  und Hinweise auf Inklusionshürden. 52-62

[12]  Brief der Lebenshilfe NRW an den LVR: „Der aktuelle Umgang mit individuellen heilpädagogischen Leistungen (ihpL) gefährdet akut die Teilhabe von Kindern mit Behinderung und Inklusion in Kitas“ vom 18. Oktober 2024.

[13] Offener Brief des lvkm.nrw vom 04. Juli 2024, abrufbar unter: www.lvkm-nrw.de/selbsthilfe; Offener Brief der Elterninitiative „Gemischte Tüte e.V.“ vom 27. September 2024, abrufbar unter: www.gemischtetuete.org/kita_assistenz

[14] Offener Brief der Elterninitiative „Gemischte Tüte e.V.“ vom 27. September 2024, abrufbar unter: www.gemischtetuete.org/kita_assistenz

[15] Die Spezifika sind nicht abschließend benannt.

[16] Kißgen, R., Austermühle J., Franke S., Limburg D. & Wöhrle, J. (2019): Rheinland-Kita-Studie: Inklusion von Kindern mit Behinderung. Abschlussbericht. 109ff; abrufbar unter: https://www.bildung.uni-siegen.de/rheinlandkitastudie/abschlussbericht_rheinlandkitastudie_final_190518.pdf  

[17] ebd. S. 15ff

[18] LVR (2024): Abschlussbericht der Task Force: Eingliederungshilfe im Elementarbereich. Vorlage Nr. 15/2581. 12

[19] Elternbefragung zum Thema „Ablauf und Ausgang“ der Bewilligungsverfahren beim LVR für das Kita-Jahr 2024-2025, abrufbar unter: www.gemischtetuete.org/kita_assistenz

[20] Ebd;  Brief der Lebenshilfe NRW an den LVR: „Der aktuelle Umgang mit individuellen heilpädagogischen Leistungen (ihpL) gefährdet akut die Teilhabe von Kindern mit Behinderung und Inklusion in Kitas“ vom 18. Oktober 2024.

[21] Der Landesrahmenvertrag nach § 131 SGB IX (NRW)

A.2.1 Heilpädagogische Leistungen in Tageseinrichtungen für Kinder)

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